Verfassungsbeschwerden gegen Maßnahmen zur Griechenland-Hilfe und zum Euro-Rettungsschirm erfolglos - Keine Verletzung der Haushaltsautonomie des Bundestages
Das Bundesverfassungsgericht hat mit seinem heute verkündeten Urteil drei Verfassungsbeschwerden zurückgewiesen, die sich gegen deutsche und europäische Rechtsakte sowie weitere Maßnahmen im Zusammenhang mit der Griechenland-Hilfe und dem Euro-Rettungsschirm richten.
Über den Sachverhalt informiert die Pressemitteilung Nr. 37/2011 vom 9. Juni 2011. Sie kann auf der Homepage des Bundesverfassungsgerichts eingesehen werden.
Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts hat entschieden, dass das zur Griechenland-Hilfe ermächtigende Währungsunion-Finanzstabilitätsgesetz und das den Euro-Rettungsschirm betreffende Gesetz zur Übernahme von Gewährleistungen im Rahmen eines europäischen Stabilisierungsmechanismus (Euro-Stabilisierungsmechanismus-Gesetz) nicht das Wahlrecht aus Art. 38 Abs. 1 GG verletzen. Der Deutsche Bundestag hat durch die Verabschiedung dieser Gesetze weder sein Budgetrecht noch die Haushaltsautonomie zukünftiger Bundestage in verfassungsrechtlich unzulässiger Weise beeinträchtigt.
§ 1 Abs. 4 des Euro-Stabilisierungsmechanismus-Gesetzes ist allerdings nur bei verfassungskonformer Auslegung mit dem Grundgesetz vereinbar.
Die Vorschrift ist dahingehend auszulegen, dass die Bundesregierung vor Übernahme von Gewährleistungen im Sinne des Gesetzes verpflichtet ist, die vorherige Zustimmung des Haushaltsausschusses einzuholen.
Im Übrigen bestimmt der Senat die verfassungsrechtlichen Grenzen für Gewährleistungsermächtigungen zugunsten anderer Staaten im Europäischen Währungsverbund.
Dem Urteil liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zugrunde:
I. Prüfungsumfang / Zulässigkeit
Der Senat hält die erhobenen Verfassungsbeschwerden nur insoweit für zulässig, als unter Berufung auf das durch Art. 38 GG geschützte Wahlrecht die Bürger einen Substanzverlust ihrer verfassungsstaatlich gefügten Herrschaftsgewalt durch weitreichende oder gar umfassende Übertragungen von Aufgaben und Befugnissen des Bundestages rügen. Art. 38 Abs. 1 GG schützt davor, dass Kompetenzen des gegenwärtigen oder eines künftigen Bundestages ausgehöhlt werden und damit die Verwirklichung des politischen Willens der Bürger rechtlich oder praktisch unmöglich gemacht wird. Eine solche Entwertung des Wahlaktes droht grundsätzlich dann, wenn Gewährleistungsermächtigungen zur Umsetzung von Verbindlichkeiten, die die Bundesrepublik Deutschland im Rahmen internationaler Übereinkünfte zur Erhaltung der Liquidität von Staaten der Währungsunion eingeht, ausgesprochen werden. Der Senat konnte offenlassen, unter welchen Voraussetzungen Verfassungsbeschwerden gegen außervertragliche Änderungen des primären Unionsrechts auf Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG gestützt werden können.
Die Beschwerdeführer haben insofern keinen konkreten Zusammenhang dargelegt, der auf eine außervertragliche Änderung des primären Unionsrechts infolge der angegriffenen Maßnahmen hindeutet. Auch im Hinblick auf eine mögliche Verletzung des Eigentumsgrundrechts (Art. 14 GG) haben die Beschwerdeführer nicht hinreichend Tatsachen vorgetragen aus denen sich ergibt, dass von den angegriffenen Maßnahmen eine objektive Beeinträchtigung der Kaufkraft des Euro von erheblichem Umfang ausgehen könnte.
Soweit die Verfassungsbeschwerden nicht nur die beiden einschlägigen Gesetze des Deutschen Bundestages angreifen, sind sie unzulässig, weil es an einem tauglichen Beschwerdegegenstand fehlt.
II. Prüfungsmaßstab
Art. 38 GG fordert in Verbindung mit den Grundsätzen des Demokratieprinzips (Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2, Art. 79 Abs. 3 GG), dass die Entscheidung über Einnahmen und Ausgaben der öffentlichen Hand als grundlegender Teil der demokratischen Selbstgestaltungsfähigkeit im Verfassungsstaat in der Hand des Deutschen Bundestages bleibt. Auch in einem System intergouvernementalen Regierens müssen die Abgeordneten als gewählte Repräsentanten des Volkes die Kontrolle über fundamentale haushaltspolitische Entscheidungen behalten. Insofern ist es dem Deutschen Bundestag untersagt, finanzwirksame Mechanismen zu begründen, die zu nicht überschaubaren haushaltsbedeutsamen Belastungen ohne erneute konstitutive Zustimmung des Bundestages führen können. Es ist insoweit auch dem Bundestag als Gesetzgeber verwehrt, dauerhafte völkervertragsrechtliche Mechanismen zu etablieren, die auf eine Haftungsübernahme für Willensentscheidungen anderer Staaten hinauslaufen, vor allem wenn sie mit schwer kalkulierbaren Folgewirkungen verbunden sind. Jede ausgabenwirksame solidarische Hilfsmaßnahme des Bundes größeren Umfangs im internationalen oder unionalen Bereich muss vom Bundestag im Einzelnen bewilligt werden. Auch bei der Art und Weise des Umgangs mit den zur Verfügung gestellten Mitteln muss hinreichender parlamentarischer Einfluss gesichert sein.
Der Senat, dem im Hinblick auf die prozessuale Ausgangslage eine Prüfung der beanstandeten Gesetze an unionsrechtlichen Bestimmungen verwehrt war, weist gleichwohl darauf hin, dass die bestehenden europäischen Verträge einem Verständnis der nationalen Haushaltsautonomie als einer wesentlichen, nicht entäußerbaren Kompetenz der unmittelbar demokratisch legitimierten Parlamente der Mitgliedstaaten nicht entgegenstehen, sondern sie im Gegenteil voraussetzen. Die strikte Beachtung der europäischen Verträge gewährleistet, dass die Handlungen der Organe der Europäischen Union in und für Deutschland über eine hinreichende demokratische Legitimation verfügen. Der Senat weist in diesem Zusammenhang auch darauf hin, dass die vertragliche Konzeption der Währungsunion als Stabilitätsgemeinschaft Grundlage und Gegenstand des deutschen Zustimmungsgesetzes ist, wie dies der Senat bereits mit der Maastricht-Entscheidung deutlich gemacht hat (BVerfGE 89, 155 <205>).
III. Subsumtion
Das Bundesverfassungsgericht kann sich bei der Feststellung einer verbotenen Entäußerung der Haushaltsautonomie nicht mit eigener Sachkompetenz an die Stelle des Gesetzgebers setzen. Es hat seine Prüfung hinsichtlich des Umfangs der Gewährleistungsübernahme auf evidente Überschreitungen äußerster Grenzen zu beschränken. Dem Gesetzgeber kommt hinsichtlich der Wahrscheinlichkeit, für Gewährleistungen einstehen zu müssen, insofern ein Einschätzungsspielraum zu, den das Bundesverfassungsgericht zu respektieren hat. Entsprechendes gilt für die Abschätzung der künftigen Tragfähigkeit des Bundeshaushalts und des wirtschaftlichen Leistungsvermögens der Bundesrepublik Deutschland. Unter Berücksichtigung dieses gesetzgeberischen Einschätzungsvorrangs und gemessen an den zulässigerweise angelegten verfassungsrechtlichen Maßstäben erweist sich sowohl das Währungsunion-Finanzstabilitätsgesetz als auch das Euro-Stabilisierungsmechanismus-Gesetz als mit dem Grundgesetz vereinbar. Der Bundestag hat sein Budgetrecht nicht in verfassungsrechtlich unzulässiger Weise entleert und den substantiellen Bestimmungsgehalt des Demokratieprinzips nicht missachtet.
Es kann nicht festgestellt werden, dass die Höhe der übernommenen Gewährleistungen die haushaltswirtschaftliche Belastungsgrenze derart überschreitet, dass die Haushaltsautonomie praktisch vollständig leerliefe.
Die Beurteilung des Gesetzgebers, dass die Gewährleistungsermächtigungen in Höhe von insgesamt rund 170 Milliarden Euro für den Bundeshaushalt tragbar seien, überschreitet nicht seinen Einschätzungsspielraum und ist daher verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Gleiches gilt für seine Erwartung, dass selbst im Fall der vollständigen Realisierung des Gewährleistungsrisikos die Verluste über Einnahmesteigerungen, Ausgabenkürzungen und über längerfristige
Staatsanleihen noch refinanzierbar wären.
Derzeit besteht auch keine Veranlassung, einen unumkehrbaren Prozess mit Konsequenzen für die Haushaltsautonomie des Deutschen Bundestages anzunehmen.
Das deutsche Zustimmungsgesetz zum Vertrag von Maastricht in der Fassung des Vertrags von Lissabon gewährleistet nach wie vor verfassungsrechtlich hinreichend bestimmt, dass sich die Bundesrepublik Deutschland keinem unüberschaubaren, in seinem Selbstlauf nicht mehr steuerbaren Automatismus einer Haftungsgemeinschaft unterwirft.
Keines der beiden angegriffenen Gesetze begründet oder verfestigt einen Automatismus, durch den der Bundestag sich seines Budgetrechts entäußern würde.
Das Währungsunion-Finanzstabilitätsgesetz beschränkt die Gewährleistungsermächtigung der Höhe nach, bezeichnet den Zweck der Gewährleistung, regelt in gewissem Umfang die Auszahlungsmodalitäten und macht bestimmte Vereinbarungen mit Griechenland zur Grundlage der Gewährleistungsübernahme. Damit ist die Gewährleistungsermächtigung weitgehend inhaltlich bestimmt.
Das Euro-Stabilisierungsmechanismus-Gesetz legt nicht nur Zweck und Grundmodalitäten, sondern auch das Volumen möglicher Gewährleistungen fest. Deren Übernahme ist nur in einem bestimmten Zeitraum möglich und wird von der Vereinbarung eines wirtschafts- und finanzpolitischen Programms mit dem betroffenen Mitgliedstaat abhängig gemacht. Dieses bedarf einvernehmlicher Billigung der Staaten des Euro-Währungsgebiets, wodurch der Bundesregierung ein bestimmender Einfluss gesichert ist.
Allerdings verpflichtet § 1 Abs. 4 Satz 1 dieses Gesetzes die Bundesregierung lediglich dazu, sich vor der Übernahme von Gewährleistungen zu bemühen, Einvernehmen mit dem Haushaltsausschuss des Bundestages herzustellen. Dies genügt nicht. Zur Gewährleistung der parlamentarischen Haushaltsautonomie bedarf es vielmehr einer verfassungskonformen Auslegung dieser Regelung dahingehend, dass die Bundesregierung grundsätzlich verpflichtet ist, vor Übernahme von Gewährleistungen jeweils die vorherige Zustimmung des Haushaltsausschusses einzuholen.
Bundesverfassungsgericht - Pressestelle -
Pressemitteilung Nr. 55/2011 vom 7. September 2011
Urteil vom vom 7. September 2011
2 BvR 987/10, 2 BvR 1485/10, 2 BvR 1099/10