29 Juli 2005

OLG: Kein Schadensersatz für NATO-Opfer

OLG Köln entscheidet über die Berufung der Opfer eines NATO-Luftangriffs auf die serbische Kleinstadt Varvarin

Im Rechtsstreit zwischen den Opfern eines NATO-Luftangriffs auf die serbische Kleinstadt Varvarin und der Bundesrepublik Deutschland hat das OLG Köln mit heute verkündetem Urteil die Berufung der Kläger gegen das klageabweisende Urteil des LG Bonn zurückgewiesen (OLG Köln, Urteil v. 28.07.2005 - 7 U 8/04, nicht rechtskräftig).

Die Kläger, insgesamt 35 Personen, sind die Opfer bzw. die Angehörigen von Opfern eines Luftangriffs von Kampfflugzeugen der NATO, durch den am 30.05.1999 die Brücke in der serbischen Kleinstadt Varvarin zerstört wurde. Hierbei wurden 10 Menschen getötet und insgesamt 30 verletzt, davon 17 schwer; alle Opfer waren Zivilpersonen.

Der Luftangriff erfolgte auf der Grundlage eines Beschlusses der NATO-Mitgliedsstaaten zur Durchführung von Luftoperationen gegen die Bundesrepublik Jugoslawien im Rahmen des damaligen Kosovo-Konflikts. Unstreitig waren deutsche Flugzeuge an dem Raketenangriff auf die Brücke nicht unmittelbar beteiligt.
Ob und inwieweit sie durch Aufklärung, Begleit- oder Luftraumschutz Unterstützungsleistungen erbrachten, ist zwischen den Parteien streitig.

Die Kläger nehmen die beklagte Bundesrepublik auf Zahlung von Geldentschädigungen in Anspruch, wobei sie einzeln jeweils Mindestbeträge zwischen 5.000 und gut 102.000 Euro, insgesamt mindestens über 535.000 Euro, fordern. Sie machen im Wesentlichen geltend, die Beklagte hafte für die Folgen des - nach Ansicht der Kläger völkerrechtswidrigen und kriegsverbrecherischen - NATO-Angriffs, weil sie ein ihr - wie die Kläger behaupten - im Rahmen der NATO-Gremien zustehendes Vetorecht gegen die Auswahl der Brücke als Angriffsziel nicht ausgeübt und zudem den Angriff durch eigene Streitkräfte unterstützt habe.

Das LG Bonn hat mit Urteil vom 10.12.2003 (1 O 361/02) die Klage abgewiesen. Die hiergegen gerichtete Berufung der Kläger hatte keinen Erfolg. Der zuständige Berufungssenat des OLG Köln hat zur Begründung seiner Entscheidung ausgeführt, die Klageansprüche fänden weder im humanitären Völkerrecht noch unmittelbar in den Grundrechten des Grundgesetzes noch im deutschen Staatshaftungsrecht eine hinreichende Stütze:

Ersatzansprüche aufgrund des humanitären Völkerrechts - insoweit sind hier vor allem Bestimmungen der sog. Haager Landkriegsordnung aus dem Jahre 1907 sowie des Zusatzprotokolls I zu den Genfer Abkommen aus dem Jahre 1949 betroffen - könnten die Kläger nicht erfolgreich in eigener Person geltend machen. Nach herrschender, zuletzt im Jahre 2004 vom BVerfG bestätigter Rechtsauffassung sehe die traditionelle Konzeption des Völkerrechts als eines zwischenstaatlichen Rechts den einzelnen Staatsbürger nicht als Völkerrechtssubjekt an, sondern gewähre ihm nur mittelbaren Schutz:

Bei völkerrechtlichen Delikten durch Handlungen gegenüber fremden Staatsbürgern stehe ein Anspruch nicht dem Betroffenen selbst, sondern nur seinem Heimatstaat zu. Lediglich der Staat könne daher im Wege des diplomatischen Schutzes sein eigenes Recht darauf geltend machen, dass das Völkerrecht in der Person seines Staatsangehörigen beachtet werde. Unmittelbare Ansprüche der Kläger persönlich aus humanitärem Völkerrecht bestünden dagegen nicht.

Entschädigungsansprüche könnten ferner auch nicht unmittelbar aus den Grundrechten hergeleitet werden. Diese seien nach allgemeiner Auffassung selbst keine Anspruchsgrundlagen, sondern in erster Linie Schutz- und Abwehrrechte gegen den Staat. Es bedürfe vielmehr auch bei Grundrechtsverletzungen stets einer konkreten Anspruchsnorm, in deren Ausgestaltung sodann grundrechtliche Wertungen einfließen könnten.

Schließlich stünden den Klägern im Ergebnis auch keine Ersatzansprüche aus dem zivilrechtlichen (deutschen) Amtshaftungsrecht zu.
Allerdings seien derartige individuelle zivilrechtliche Ansprüche geschädigter Personen neben einem - etwaigen - völkerrechtlichen Anspruch ihres Heimatstaats nicht grundsätzlich ausgeschlossen. Die Anwendung des Amtshaftungsrechts scheide vorliegend auch nicht etwa deshalb generell aus, weil das streitige Geschehen sich im Rahmen einer bewaffneten zwischenstaatlichen Auseinandersetzung ereignet habe. Zwar seien nach dem Verständnis des deutschen Amtshaftungsrechts in der Zeit bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs dem Staat zurechenbare militärische Handlungen vom - damaligen - Amtshaftungstatbestand ausgenommen gewesen (vgl. dazu das "Distomo"-Urteil des BGH vom 26.06.2003 zu einem Vorfall aus 1944). Dieses Verständnis sei aber für derartige Auseinandersetzungen in der Gegenwart überholt und auf der Grundlage des heutigen deutschen Amtshaftungsrechts im Lichte der Werteordnung des Grundgesetzes und der Weiterentwicklungen im internationalen Recht nicht mehr zu rechtfertigen.
Gleichwohl verhelfe dies der Klage letztlich nicht zum Erfolg. Völkerrechtswidrige, kriegsverbrecherische Handlungen, die sich staatshaftungsrechtlich als Amtsmissbrauch seitens der Bundesrepublik darstellten oder sonstige ihr haftungsrechtlich zurechenbare Handlungen seien nämlich nicht feststellbar:
Hierbei könne dahin stehen, ob tatsächlich deutsche Flugzeuge unterstützend in den streitigen Luftangriff eingebunden gewesen und ob die konkreten Umstände dieses Angriffs völkerrechtswidrig oder gar kriegsverbrecherisch gewesen seien. Dass die beklagte Bundesrepublik, eine unterstützende Einbindung in den Angriff zugunsten der Kläger unterstellt, über das konkrete Angriffsziel oder über Umstände und Form des Angriffs informiert gewesen sei, werde von den Klägern nicht behauptet und sei auch nach dem innerhalb der NATO geltenden Grundsatz des "need to know" - wonach jeder Mitgliedsstaat hinsichtlich der einzelnen Luftoperationen nur über die zur Wahrnehmung seiner eigenen Aufgaben nötigen Kenntnisse habe verfügen müssen - nicht ersichtlich. Jedenfalls mangels Kenntnis bzw. schuldhafter Unkenntnis einer etwaigen Vorwerfbarkeit der konkreten Ausführung des Angriffs auf Seiten der Bundesrepublik scheide daher eine Zurechnung der Angriffsfolgen aus. Im Kern nichts anderes gelte hinsichtlich der Aufnahme der Brücke in die Ziellisten der NATO bzw. der Nichtausübung eines etwaigen Vetorechts.
Dass allein schon die Aufnahme der Brücke in die Listen als solche offensichtlich völkerrechtswidrig gewesen sei, lasse sich nicht feststellen. Von den Klägern werde auch nicht vorgetragen, dass die konkreten Umstände eines künftigen Angriffs schon bei der Zielauswahl überhaupt in Rede gestanden hätten; dagegen spreche überdies das Prinzip des "need to know". Die Beklagte habe deshalb, ihre Kenntnis von der Aufnahme in die Ziellisten bzw. die Nichtausübung eines etwaigen Vetorechts unterstellt, darauf vertrauen können, dass ein möglicher künftiger Angriff in Übereinstimmung mit dem Völkerrecht erfolgen werde.

Das Urteil des OLG Köln ist nicht rechtskräftig. Der Berufungssenat hat mit Rücksicht darauf, dass über die Frage der Anwendbarkeit des heute geltenden Amtshaftungsrechts auf Handlungen im Rahmen bewaffneter Auseinandersetzungen höchstrichterlich noch nicht entschieden wurde, die Revision zum Bundesgerichtshof zugelassen.

Rüdiger Pamp
Dezernent für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit

27 Juli 2005

BVerfG: Regelungen des Niedersächsischen Polizeigesetzes

Die Regelungen des § 33a Abs. 1 Nr. 2 und 3 des Niedersächsischen
Gesetzes über die öffentliche Sicherheit und Ordnung (Nds.SOG), die die
Polizei zur Telekommunikationsüberwachung zum Zwecke der Verhütung und
der Vorsorge für die Verfolgung von Straftaten ermächtigen, sind wegen
Verstoßes gegen das Fernmeldegeheimnis (Art. 10 Abs. 1 GG) nichtig. Dies
entschied der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts mit Urteil vom
27. Juli 2005. Der Niedersächsische Gesetzgeber habe teilweise seine
Gesetzgebungskompetenz überschritten. Da der Bundesgesetzgeber die
Verfolgung von Straftaten durch Maßnahmen der
Telekommunikationsüberwachung in der Strafprozessordnung abschließend
geregelt habe, seien die Länder insoweit von der Gesetzgebung
ausgeschlossen. Zudem sei die gesetzliche Ermächtigung insgesamt nicht
hinreichend bestimmt und genüge nicht den Anforderungen des
Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes. Ferner fehlten im Gesetz Vorkehrungen
zum Schutz des Kernbereichs privater Lebensgestaltung.

Damit war die Verfassungsbeschwerde eines Richters, der sich durch die
angegriffenen Regelungen in seinem Fernmeldegeheimnis verletzt sah,
erfolgreich (weitere Sachverhaltsinformationen finden Sie in der
Pressemitteilung Nr. 10/2005 vom 28. Januar 2005).

Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zu Grunde:

1. Die angegriffenen Regelungen sind formell verfassungswidrig

a) Im Änderungsgesetz fehlt der nach Art. 19 Abs. 1 Satz 2 GG
(Zitiergebot) erforderliche Hinweis auf die Einschränkung des Art. 10
Abs. 1 GG (Fernmeldegeheimnis). Die Nichtbeachtung des Zitiergebots
bleibt für die Wirksamkeit des angegriffenen Gesetzes aber ohne
Konsequenzen.

b) Der niedersächsische Gesetzgeber hat seine Gesetzgebungskompetenz
durch die Regelungen über die Vorsorge für die Verfolgung von Straftaten
überschritten.
Die Telekommunikationsüberwachung ist nicht auf die Verhütung von
Straftaten beschränkt, sondern sieht in § 33a Abs. 1 Nr. 2 und 3 Nds.SOG
auch die „Vorsorge für die Verfolgung von Straftaten“ als eigenständiges
Tatbestandsmerkmal vor. Die Daten werden also zur Verwertung in einem
künftigen Strafverfahren und damit zur Strafverfolgung erhoben. Eine
solche Verfolgungsvorsorge gehört zum gerichtlichen Verfahren im Sinne
des Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG und daher zur konkurrierenden Gesetzgebung.

Von der konkurrierenden Gesetzgebung zur Strafverfolgung hat der
Bundesgesetzgeber im Bereich der Telekommunikationsüberwachung
abschließend Gebrauch gemacht und sich dabei gegen zusätzliche, in das
erweiterte Vorfeld einer Straftat vorgelagerte Maßnahmen entschieden.
Dem Erfordernis eines frühzeitigen Einsatzes der
Telekommunikationsüberwachung hat der Bundesgesetzgeber dadurch Rechnung
getragen, dass er die Maßnahmen unter bestimmten Voraussetzungen bereits
im Vorbereitungsstadium zulässt. Die gezielten Eingrenzungen könnten
hinfällig werden, wenn die Länder vergleichbare Maßnahmen zur
Telekommunikationsüberwachung ebenfalls mit dem Ziel der Sicherung
späterer Strafverfolgung unter anderen, etwa geringeren, Voraussetzungen
normieren könnten.

2. Die angegriffenen Normen sind auch in materieller Hinsicht nicht mit
der Verfassung vereinbar.

a) Die weite Ermächtigung des § 33a Abs. 1 Nr. 2 und 3 Nds.SOG zur
Verhütung und zur Vorsorge für die Verfolgung von Straftaten wird dem
Bestimmtheitsgebot nicht gerecht.

Die Telefonüberwachung nach § 33a Abs. 1 Nr. 2 Nds.SOG setzt voraus,
dass Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass jemand in der Zukunft
Straftaten von erheblicher Bedeutung begehen wird. Das Gesetz setzt
nicht einen konkreten, in der Entwicklung begriffenen Vorgang, dessen
Planung oder eine Vorbereitungshandlung voraus. Es genügt die auf
Tatsachen gegründete Annahme, dass jemand Straftaten von erheblicher
Bedeutung begehen wird. Das Gesetz enthält keine einschränkenden
Tatbestandsmerkmale, die die – gerade im Bereich der Vorfeldermittlung
schwierige – Abgrenzung eines harmlosen von dem in eine
Straftatenbegehung mündenden Verhaltens ermöglichen. Die Ausrichtung auf
„Straftaten von erheblicher Bedeutung“ trägt nicht zu einer Präzisierung
bei. Dieses Tatbestandsmerkmal bietet keine Anhaltspunkte dafür, wann
ein Verhalten auf die künftige Begehung solcher Straftaten hindeutet.
Nicht hinreichend bestimmt ist ferner die Regelung in § 33a Abs. 1 Nr. 3
Nds.SOG, die zurÜberwachung der Telekommunikation bei Kontakt- oder
Begleitpersonen ermächtigt. Zu der Unsicherheit, wer als potenzieller
Straftäter in Betracht kommt, tritt hier die Unklarheit, die mit dem
Begriff der Kontakt- oder Begleitperson verbunden ist. Nach der
gesetzlichen Definition ist dies jede Person, die mit dem potentiellen
Straftäter so in Verbindung steht, dass durch sie Hinweise über die
angenommene Straftat gewonnen werden können. Wann dies der Fall ist,
lässt das Gesetz aber offen.

b) Die angegriffenen Normen genügen auch nicht den Anforderungen der
Verhältnismäßigkeit. Die Überwachung der Telekommunikation auf der
Grundlage des § 33a Abs. 1 Nr. 2 und 3 Nds.SOG ermöglicht einen
schwerwiegenden Eingriff in das Fernmeldegeheimnis. Durch die
Datenerhebung lassen sich Einblicke insbesondere in das
Kommunikationsverhalten, das soziale Umfeld sowie persönliche
Gewohnheiten der überwachten Person gewinnen. Einbußen an grundrechtlich
geschützter Freiheit dürfen nicht in unangemessenem Verhältnis zu den
Zwecken stehen, denen die Grundrechtsbeschränkung dient. Die
Datenerhebung hat den legitimen Zweck, Straftaten von erheblicher
Bedeutung zu verfolgen und zu verhüten. Das Gewicht dieses Belanges ist
von dem durch die Norm geschützten Rechtsgut und der Intensität seiner
Gefährdung abhängig. Begnügt sich das Gesetz mit nicht näher
eingegrenzten Tatsachen, die die Annahme einer künftigen Straftat
rechtfertigen, kann der schwere Eingriff in das
Telekommunikationsgeheimnis nur dann als angemessen bewertet werden,
wenn der zu schützende Gemeinwohlbelang allgemein sowie im konkreten
Fall überragend wichtig ist. Eine solche Einengung aber fehlt in dem
Gesetz.

Auch das Tatbestandsmerkmal der „Straftaten von erheblicher Bedeutung“
trägt den Anforderungen an das besondere Gewicht des zu verfolgenden
Rechtsguts nicht Rechnung. Den im Gesetz aufgeführten Straftaten ist
schon kein auf die Besonderheiten der Telekommunikationsüberwachung im
Vorfeld zugeschnittenes gesetzgeberisches Konzept zu entnehmen, das sich
auf den Schutz besonders hochrangiger Rechtsgüter bezieht und
beschränkt. Auch enthält das Gesetz keine abschließende Umschreibung der
Straftaten. Eine einengende Auslegung des Begriffs der Straftaten von
erheblicher Bedeutung ist ausgeschlossen. Das Defizit an Normenklarheit
würde dadurch nur verschärft.
Hinzu kommt, dass § 33a Abs. 1 Nr. 2 und 3 Nds.SOG die für die Prognose
und die Abwägung nutzbaren Tatsachen nicht hinreichend umschreibt. Die
Bestimmtheitsmängel wirken sich auf die Prüfung der Angemessenheit aus.
Denn es fehlt an einem Maßstab für die abwägende Prüfung, ob die
tatsächlichen Anhaltspunkte des Gewichts des gefährdenden Rechtsguts
ausreichen..

c) Schließlich enthält das Gesetz auch keine hinreichenden Vorkehrungen
zur Vermeidung von Eingriffen in den absolut geschützten Kernbereich
privater Lebensgestaltung. Zwar gelten für die
Telekommunikationsüberwachung nicht die für die Wohnraumüberwachung in
dem Urteil des Senats zum Großen Lauschangriff (BVerfGE 109, 279)
dargelegten Anforderungen. Wegen des Risikos, dass die Abhörmaßnahme
Kommunikation aus dem Kernbereich privater Lebensgestaltung erfasst, ist
sie aber allenfalls bei einem besonders hohen Rang des gefährdeten
Rechtsguts und einer hohen Intensität der Gefährdung hinzunehmen. Ferner
müssen konkrete Anhaltspunkte auf einen unmittelbaren Bezug zur
zukünftigen Begehung der Straftat schließen lassen. Erforderlich sind
auch Sicherungen, dass Kommunikationsinhalte des höchstpersönlichen
Bereichs nicht verwertet und dass sie unverzüglich gelöscht werden, wenn
es ausnahmsweise zu ihrer Erhebung gekommen ist. An derartigen
Regelungen aber fehlt es im Gesetz.

Urteil vom 27. Juli 2005 – 1 BvR 668/04 –

Karlsruhe, den 27. Juli 2005