31 März 2006

BVerfG zu Todesurteilen des NS-Regimes

Todesurteile von 1944 gegen zwei Jugendliche kraft Gesetzes aufgehoben
- daher kein Raum für Wiederaufnahmeverfahren


Am 13. September 1944 wurden die beiden damals erst 14-jährigen
Jugendlichen Karl S. und Johann H. in Aachen zusammen mit einer Gruppe
von Erwachsenen durch Wehrmachtsangehörige unter dem Vorwurf des
Plünderns festgenommen. Ein sogleich eingesetztes Standgericht
verurteilte die beiden Jungen zum Tode. Das Urteil wurde unmittelbar
danach durch Erschießen vollstreckt. Den Jungen wurde keine Gelegenheit
gegeben, Rechtsmittel einzulegen. Im Jahre 2003 wandten sich Angehörige
(Beschwerdeführer) der beiden Jugendlichen mit „Anträgen auf
Rehabilitierung“ an die Staatsanwaltschaft Aachen. Diese erteilte ihnen
die Bescheinigung, dass die Verurteilung aufgrund des Gesetzes zur
Aufhebung nationalsozialistischer Unrechtsurteile in der
Strafrechtspflege (NS-Aufhebungsgesetz) aufgehoben sei. Ein daraufhin
gestellter Antrag der Angehörigen auf Wiederaufnahme des
standgerichtlichen Verfahrens mit dem Ziel, die beiden hingerichteten
Jungen vom Vorwurf der Plünderung freizusprechen, wurde in letzter
Instanz vom Oberlandesgericht Köln als unzulässig verworfen. Ihre
hiergegen gerichtete Verfassungsbeschwerde blieb ohne Erfolg. Die 2.
Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts führt aus, dass
das Oberlandesgericht in verfassungsrechtlich nicht zu beanstandender
Weise davon ausgegangen ist, dass den Beschwerdeführern das
Wiederaufnahmeverfahren nicht mehr eröffnet ist, da die Urteile bereits
nach dem Gesetz zur Aufhebung nationalsozialistischer Unrechtsurteile in
der Strafrechtspflege aufgehoben sind.

Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zu Grunde:
Den Beschwerdeführern ist das Wiederaufnahmeverfahren nicht mehr
eröffnet, da es infolge der Aufhebung der Urteile nach dem NS-
Aufhebungsgesetz an einem „Anfechtungsgegenstand“ für ein
Wiederaufnahmeverfahren fehlt. Gegen die Verfassungsmäßigkeit des NS-
Aufhebungsgesetzes bestehen keine Bedenken, insbesondere ist es
verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, dass sich der Gesetzgeber in
rehabilitierungswürdigen Fällen der vorliegenden Art für eine pauschale
Aufhebung statt für eine Wiederaufnahme der einzelnen Verfahren
entschieden hat.

Das Wiederaufnahmeverfahren geht von im Grundsatz rechtsstaatlichen
Verhältnissen aus, unter denen im Einzelfall fehlerhafte
Verfahrensergebnisse auch nach Rechtskrafteintritt korrigiert werden
können. In Fällen der vorliegenden Art geht es dagegen um ein
systembedingtes reines Willkürverfahren, das aber bei Anwendung der
Vorschriften über die Wiederaufnahme des Verfahrens als Grundlage für
die Durchführung einer nachträglichen Beweisaufnahme dienen würde. Damit
käme diesem Verfahren ein Stellenwert zu, den es nicht verdient. Darüber
hinaus ist das herkömmliche Wiederaufnahmeverfahren zumindest
unzulänglich, die sich aus der Existenz nationalsozialistischer
Unrechtsurteile stellenden Probleme zu lösen. So müsste ein
Wiederaufnahmegrund vorliegen, was jedenfalls in Bezug auf die
Beibringung neuer Tatsachen oder Beweismittel allein schon wegen der
lange zurückliegenden Zeit unwahrscheinlich ist. Darüber hinaus sind die
Fährnisse eines Wiederaufnahmeverfahrens zur berücksichtigen. Wenn etwa
das von den jeweiligen Antragstellern beigebrachte neue Beweismittel
nicht geeignet ist, einen Freispruch herbeizuführen, etwa weil ein Zeuge
sich doch nicht mehr genau erinnern kann, wäre der Antrag auf
Wiederaufnahme als unbegründet zu verwerfen oder gar das frühere Urteil
aufrechtzuerhalten. Zudem ist zu bedenken, dass eine Aufrollung des
Einzelfalles häufig dadurch erschwert wird, dass die Verfahrensakten
absichtlich oder aufgrund von Kriegseinwirkungen vernichtet worden sind.
Bei der Frage, wie eine umfassende Rehabilitation erreicht werden kann,
ist schließlich auch die hohe Zahl der bis 1998 noch in Kraft gewesenen
NS-Unrechtsurteile, die auf mehrere Hunderttausende geschätzt wurde, zu
berücksichtigen. Allein dies macht deutlich, dass durch eine
detaillierte Neubeurteilung jedes einzelnen Sachverhaltes das
gesetzgeberische Ziel nicht zu erreichen war. Angesichts dieser Probleme
hat der Gesetzgeber die Grenzen seiner Gestaltungsmacht nicht
überschritten, wenn er statt einer gerichtlichen Aufhebung der
Einzelfälle eine gesetzliche Aufhebung der Entscheidungen anordnet.
Hierdurch wird dem Rehabilitierungsinteresse der Betroffenen aus
verfassungsrechtlicher Sicht hinreichend Genüge getan.

Pressemitteilung Nr. 26/2006 vom 31. März 2006

Zum Beschluss vom 8. März 2006 – 2 BvR 486/05 –

09 März 2006

BVerfG zur unentgeltlichen Rechtsberatung

Unentgeltliche Rechtsberatung durch berufserfahrenen Juristen

Die Verfassungsbeschwerde eines pensionierten Richters, der schon seit
langem um die Anerkennung der „altruistischen Rechtsberatung“ kämpft,
gegen seine Nichtzulassung als Wahlverteidiger in einem Strafverfahren
war erfolgreich. Das Landgericht und das Oberlandesgericht hatten die
Zulassung als Verteidiger versagt, weil der Beschwerdeführer, der
bereits zweimal wegen unerlaubter geschäftsmäßiger Besorgung fremder
Rechtsangelegenheiten verurteilt worden war, die nach Art. 1 § 1
Rechtsberatungsgesetz erforderliche Erlaubnis nicht besitze. Eine
behördliche Erlaubnis sei auch für die unentgeltliche, rein
altruistische Rechtsberatung notwendig, sofern sie geschäftsmäßig und
nicht nur einmalig betrieben werde. Weil die Tätigkeit des
Beschwerdeführers einen erneuten Verstoß gegen das Rechtsberatungsgesetz
bedeute, komme eine Zulassung als Wahlverteidiger nicht in Betracht.

Die 1. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts hob die
angegriffene Entscheidung des Oberlandesgerichts auf. Die Nichtzulassung
des Beschwerdeführers als Wahlverteidiger im Strafverfahren stelle einen
nicht gerechtfertigten Eingriff in seine allgemeine Handlungsfreiheit
(Art. 2 Abs. 1 GG) dar. Die Sache wurde zu neuer Entscheidung an das
Oberlandesgericht zurückverwiesen.

Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zu Grunde:
Das Bundesverfassungsgericht hatte bereits in seiner Entscheidung vom
29. Juli 2004 (vgl. Pressemitteilung Nr. 76/2004 vom 5. August 2004) das
Verbot der unentgeltlichen Rechtsberatung durch einen Volljuristen in
Frage gestellt. Der Begriff der Geschäftsmäßigkeit in Art. 1 § 1
Rechtsberatungsgesetz könne unter Abwägung der Schutzzwecke des
Rechtsberatungsgesetzes einerseits und des Grundrechts der allgemeinen
Handlungsfreiheit andererseits eine Auslegung erfordern, die die
unentgeltliche Rechtsbesorgung durch einen berufserfahrenen Juristen
nicht erfasst.

Nach den Grundsätzen dieser Entscheidung kann Art. 1 § 1
Rechtsberatungsgesetz auf die von dem Beschwerdeführer ausgeübte
unentgeltliche Rechtsberatung keine Anwendung finden, wenn bei der
Auslegung des Begriffs der „Geschäftsmäßigkeit“ die grundrechtlich
garantierte Handlungsfreiheit des Beschwerdeführers hinreichende
Beachtung findet. Ein vermeintlicher Verstoß gegen Art. 1 § 1
Rechtsberatungsgesetz kann damit auch nicht als Begründung zur Versagung
einer Genehmigung als Wahlverteidiger im Strafverfahren herangezogen
werden. Indem das Oberlandesgericht die Reichweite des Grundrechts der
allgemeinen Handlungsfreiheit nicht erkannt und einseitig die auf einer
überholten Auslegung des Rechtsberatungsgesetzes gestützten Bedürfnisse
der Rechtspflege in die Abwägung eingestellt hat, liegt ein
schwerwiegender Fehler bei der Ermessensentscheidung über die Bestellung
als Wahlverteidiger vor.

Pressemitteilung Nr. 17/2006 vom 9. März 2006

Zum Beschluss vom 16. Februar 2006 – 2 BvR 951/04 und 2 BvR 1087/04 –

08 März 2006

BGH: MietR-Betriebskosten

Der Beklagte ist Mieter einer nicht preisgebundenen Wohnung der Klägerin in Berlin. Mit ihrer Klage hat die Klägerin unter anderem Zahlung rückständiger Mieten sowie Nachforderungen aus Betriebskostenabrechnungen verlangt. Der Beklagte hat beanstandet, dass die Klägerin die im selben Gebäude befindlichen Gewerbeflächen und die darauf entfallenden Kosten in den Betriebskostenabrechnungen nicht vorweg abgezogen und ihm darüber hinaus trotz eines entsprechenden Verlangens keine Fotokopien zu den einzelnen Abrechnungsbelegen überlassen habe. Im Übrigen hat der Beklagte wegen der von ihm beanstandeten Abrechnungsweise die Aufrechnung erklärt und Widerklage erhoben. Das Berufungsgericht hat der Klage im Wesentlichen stattgegeben und die Widerklage insgesamt abgewiesen.

Der unter anderem für das Wohnraummietrecht zuständige VIII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat die Revision des Beklagten zurückgewiesen.

Der Bundesgerichtshof hat ausgeführt, dass bei der Abrechnung des Vermieters von preisfreiem Wohnraum über Betriebskosten soweit die Parteien nichts anderes vereinbart haben ein Vorwegabzug der Kosten, die auf die in einem gemischt genutzten Gebäude befindlichen Gewerbeflächen entfallen, jedenfalls dann nicht geboten ist, wenn sie hinsichtlich aller oder einzelner Betriebskostenarten nicht zu einer ins Gewicht fallenden Mehrbelastung der Wohnraummieter führen. Der Vorwegabzug ist nur für bestimmte Mietverhältnisse im öffentlich geförderten Wohnungsbau gesetzlich vorgeschrieben (§ 20 Abs. 2 Satz 2 der Neubaumietenverordnung). Er soll verhindern, dass die Wohnungsmieter mit Kosten belastet werden, die allein oder in höherem Maße aufgrund einer gewerblichen Nutzung in gemischt genutzten Objekten entstehen. Dem Wohnungsmieter entsteht jedoch kein Nachteil, wenn er durch die Umlage der auf das Gebäude entfallenden Gesamtkosten nach einem einheitlich für alle Mieter geltenden Maßstab nicht schlechter gestellt wird als im Falle einer Voraufteilung zwischen Wohn- und Gewerbeflächen. Hierdurch wird auch dem Interesse beider Mietvertragsparteien an einer Vereinfachung der Abrechnung Rechnung getragen. Nach diesen Grundsätzen waren die Betriebskostenabrechnungen der Klägerin ordnungsgemäß. Das Berufungsgericht hatte angenommen, die in dem Gebäude befindlichen fünf Gewerbebetriebe darunter ein Job-Center und ein Internet-Café hätten keine erhebliche Mehrbelastung hinsichtlich der einzelnen Betriebskostenarten verursacht. Diese Würdigung des Berufungsgerichts, die vom Bundesgerichtshof nur auf das Vorliegen von Rechtsfehlern zu überprüfen ist, war aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden.

Des Weiteren hat der Bundesgerichtshof entschieden, dass der Mieter preisfreien Wohnraums grundsätzlich keinen Anspruch gegen den Vermieter auf Überlassung von Fotokopien der Abrechnungsbelege zur Betriebskostenabrechnung hat. Einen solchen Anspruch des Mieters sieht das Gesetz für den Bereich des preisfreien Wohnraumes nicht vor. Einer entsprechenden Anwendung des § 29 Abs. 2 Satz 1 der Neubaumietenverordnung, der für bestimmte preisgebundene Wohnraummietverhältnisse dem Mieter einen Anspruch auf Überlassung von Ablichtungen gegen Kostenerstattung einräumt, steht entgegen, dass eine dem Willen des Gesetzgebers zuwiderlaufende Regelungslücke des Gesetzes nicht vorliegt. Auch ein Anspruch des Mieters nach den Grundsätzen von Treu und Glauben (§ 242 BGB) auf Übersendung von Fotokopien war im vorliegenden Fall nicht gegeben. Der Vermieter kann ein berechtigtes Interesse daran haben, den Mieter auf die Einsichtnahme in die Rechnungsbelege zu verweisen die dessen Interesse an einer Überprüfung der Abrechnung in der Regel hinreichend Rechnung trägt , um den durch die Anfertigung von Fotokopien entstehenden zusätzlichen Aufwand zu vermeiden und dem Mieter mögliche Unklarheiten im Gespräch sofort zu erläutern. Hierdurch kann Fehlverständnissen der Abrechnung und zeitlichen Verzögerungen durch ein Verlangen des Mieters nach Übersendung weiterer Kopien von Rechnungsbelegen wie es auch der Beklagte, dem die Klägerin während des Rechtsstreits rund 300 Fotokopien von Abrechnungsbelegen übermittelt hatte, gestellt hatte vorgebeugt werden. Dieses Interesse des Vermieters würde nicht hinreichend berücksichtigt, wenn er dem Mieter stets auch gegen Kostenerstattung auf dessen Anforderung hin Belegkopien zu überlassen hätte.

Ein Anspruch des Mieters auf Übermittlung von Fotokopien kommt nach Treu und Glauben (§ 242 BGB) allerdings ausnahmsweise dann in Betracht, wenn ihm die Einsichtnahme in die Abrechnungsunterlagen in den Räumen des Vermieters nicht zugemutet werden kann. So lag der Fall hier jedoch nicht. Dass dem Beklagten die Einsichtnahme in den Geschäftsräumen der ebenfalls in Berlin gelegenen Hausverwaltung nicht unzumutbar war, hatte das Berufungsgericht mit rechtsfehlerfreien und von der Revision nicht beanstandeten Erwägungen angenommen.

Urteil vom 8. März 2006 VIII ZR 78/05

AG Berlin-Mitte 2 C 144/03 ./. LG Berlin 67 S 99/04

Karlsruhe, den 8. März 2006

Pressestelle des Bundesgerichtshof

07 März 2006

BVerfG zum Rückkauf von Kapitallebensversicherung

Zur Berechnung des Rückkaufswertes einer kapitalbildenden Lebensversicherung bei vorzeitiger Kündigung

Die Verfassungsbeschwerde eines Versicherungsnehmers, der im Jahr 1992
seine kapitalbildende Lebensversicherung vorzeitig gekündigt hatte, war
jedenfalls im Kern erfolgreich. Dieser hatte sich gegen die im Wege der
„Zillmerung“ erfolgte Berechnung des Rückkaufswertes seiner
Lebensversicherung gewandt. Lebensversicherungen mit „gezillmerter“
Prämie weisen die Grundstruktur auf, dass dem Versicherungsnehmer die
Vertragsabschlusskosten (insbesondere Vermittlungsprovision) nicht
gesondert in Rechnung gestellt werden, sondern mit der insgesamt zu
zahlenden Prämie verrechnet werden. Die Prämienhöhe wird so berechnet,
dass sie über die Gesamtlaufzeit des Vertrags gleich bleibt und dass
Prämienzahlungen zunächst dazu verwendet werden, die Abschlusskosten zu
decken. Dies führt dazu, dass der Rückkaufswert des
Lebensversicherungsvertrags in den ersten Jahren sehr niedrig ist oder
sogar entfällt. Die Rechtslage zur Zeit des hier streitgegenständlichen
Vertragsschlusses war zudem dadurch gekennzeichnet, dass die genaue
Berechnung der Zillmerung in dem den Versicherungsnehmern nicht
bekannten von der Aufsichtsbehörde genehmigten Geschäftsplan des
Versicherungsunternehmens dargestellt worden war. Für nach dem 28. Juli
1994 abgeschlossene Lebensversicherungsverträge gilt eine veränderte
Rechtslage. Allerdings hat die Neuregelung des Versicherungsrechts im
Jahr 1994 die Anwendbarkeit der vorliegend angegriffenen Berechnung des
Rückkaufswertes nach der Methode Zillmer nicht beseitigt.

Die 1. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts stellte
fest, dass der verfassungsrechtliche Schutzauftrag Vorkehrungen dafür
erfordere, dass die Versicherungsnehmer einer kapitalbildenden
Lebensversicherung erkennen können, in welcher Höhe Abschlusskosten mit
der Prämie verrechnet werden dürfen und dass sie bei einer vorzeitigen
Beendigung des Lebensversicherungsverhältnisses eine Rückvergütung
erhalten, deren Wert auch unter Berücksichtigung in Rechnung gestellter
Abschlusskosten in einem angemessenen Verhältnis zu den bis zu diesem
Zeitpunkt gezahlten Versicherungsprämien steht. Die Kammer hat die
Verfassungsbeschwerde gleichwohl nicht zur Entscheidung angenommen, da
ihr aufgrund der vorangegangenen Urteile des Ersten Senats des
Bundesverfassungsgerichts vom 26. Juli 2005 (Pressemitteilungen Nr. 66
und 67/2005 vom 26. Juli 2005) keine grundsätzliche Bedeutung mehr
zukomme.

Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zu Grunde:
1. Das Bundesverfassungsgericht hat in seinen Urteilen vom 26. Juli 2005
verfassungsrechtliche Schutzdefizite im Recht der kapitalbildenden
Lebensversicherung mit Überschussbeteiligung festgestellt.
Entsprechende Schutzdefizite sind auch bei der Verrechnung von
Abschlusskosten für den Fall vorzeitiger Vertragsauslösung nach dem
seinerzeit maßgeblichen Recht festzustellen:

Die in Art. 2 Abs. 1 und Art. 14 Abs. 1 GG enthaltenen
objektivrechtlichen Schutzaufträge erfordern Vorkehrungen dafür, dass
die Versicherungsnehmer über effektive Möglichkeiten zur Durchsetzung
ihrer Interessen verfügen. Bleiben den Versicherungsnehmern Art und
Höhe der zu verrechnenden Abschlusskosten und der Verrechnungsmodus
unbekannt, ist ihnen eine eigenbestimmte Entscheidung darüber
unmöglich, ob sie einen Vertrag zu den konkreten Konditionen
abschließen wollen. Darf – wie es der seinerzeitigen Rechtslage
entsprach – für die Berechnung auf den den Versicherungsnehmern nicht
bekannten Geschäftsplan verwiesen werden, fehlt es auch insofern an
der für eine autonome Entscheidung unabdingbaren Transparenz.

Darüber hinaus muss gesichert werden, dass die Versicherungsnehmer
bei einer vorzeitigen Beendigung des Lebensversicherungsverhältnisses
eine Rückvergütung erhalten, deren Wert auch unter Berücksichtigung
in Rechnung gestellter Abschlusskosten sowie des Risiko- und
Verwaltungskostenanteils in einem angemessenen Verhältnis zu den bis
zu diesem Zeitpunkt gezahlten Versicherungsprämien steht. Die mit dem
Abschluss eines Versicherungsvertrages verfolgte Zielsetzung der
Vermögensbildung darf nicht dadurch teilweise vereitelt werden, dass
hohe Abschlusskosten, deren konkrete Berechnung zudem den
Versicherungsnehmern nicht bekannt ist und deren Höhe von ihnen auch
nicht beeinflusst werden kann, in den ersten Jahren mit der Prämie so
verrechnet werden können, dass der Rückkaufswert in dieser Zeit
unverhältnismäßig gering ist oder gar gegen Null tendiert.

Fehlen Möglichkeiten der Versicherungsnehmer, ihre Belange insoweit
selbst effektiv zu verfolgen, trifft den Gesetzgeber ein
verfassungsrechtlicher Schutzauftrag. Diesem Auftrag ist er nicht in
ausreichendem Maße nachgekommen. Weder zivilrechtlich noch mit Hilfe
des Aufsichtsrechts konnte der Versicherungsnehmer nach dem für den
Versicherungsvertrag des Beschwerdeführers maßgebenden Recht eine
angemessene Berücksichtigung seiner Belange erwirken. Die
Zivilgerichte verwiesen auf die öffentlichrechtliche Genehmigung des
Geschäftsplans und nahmen insoweit eine eigene inhaltliche Prüfung
nicht vor. Eine Kompensation dieses Rechtsschutzdefizits durch das
Versicherungsaufsichtsrecht fand nicht statt. Die Aufsichtsbehörde
beschränkte sich grundsätzlich auf eine – nicht auf das einzelne
Versicherungsvertragsverhältnis bezogene – Missbrauchsaufsicht.

2. Für die aktuell geltende Rechtslage hat sich allerdings dadurch eine
Änderung ergeben, dass der Bundesgerichtshof mit Urteil vom 12.
Oktober 2005 im Wege der ergänzenden Vertragsauslegung Grenzen der
Verrechung der Abschlusskosten bei vorzeitiger Vertragsauflösung
festgelegt hat. Er hat damit eine zivilrechtliche Lösung
bereitgestellt, die auch Rechtsschutz im Rahmen der
Zivilgerichtsbarkeit ermöglicht. Nach dieser Rechtslage verbleibt es
zwar grundsätzlich bei der Verrechnung der geleisteten einmaligen
Abschlusskosten nach dem Zillmerungsverfahren. Für den Fall der
vorzeitigen Beendigung der Beitragszahlung ist jedenfalls die
versprochene Leistung geschuldet; der vereinbarte Beitrag der
beitragsfreien Versicherungssumme und des Rückkaufswertes darf aber
einen vom Bundesgerichtshof näher umschriebenen Mindestbetrag nicht
unterschreiten.

Aufgrund dieser Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs sowie aufgrund
der Urteile des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 26.
Juli 2005 haben die in der Verfassungsbeschwerde aufgeworfenen
Rechtsfragen keine grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung
mehr. Das Bundesverfassungsgericht hatte dem Gesetzgeber aufgegeben,
bis zum 31. Dezember 2007 eine mit den grundrechtlichen Vorgaben
vereinbare Regelung des Rechts der Lebensversicherung zu treffen. Es
ist zu erwarten, dass die vom Gesetzgeber zu schaffende Lösung auch
Sicherungen für größere Transparenz enthalten und Auswirkungen auf
die Be- und Verrechnung von Abschlusskosten haben wird.

Pressemitteilung Nr. 16/2006 vom 7. März 2006

Zum Beschluss vom 15. Februar 2006 – 1 BvR 1317/96 –

03 März 2006

BVerfG zu NS-Verbrechen

Keine Schadensersatzpflicht der Bundesrepublik Deutschland gegenüber Geschädigten des SS-Massakers in Distomo

Die Verfassungsbeschwerde der vier Beschwerdeführer betrifft die Frage
der Schadensersatz- und Entschädigungspflicht der Bundesrepublik
Deutschland für während der Besetzung Griechenlands im Zweiten Weltkrieg
von Angehörigen der deutschen Streitkräfte verübte
„Vergeltungsmaßnahmen“. Die 1. Kammer des Zweiten Senats des
Bundesverfassungsgerichts nahm die Verfassungsbeschwerde, die sich gegen
die eine Ersatzpflicht ablehnenden gerichtlichen Entscheidungen wandte,
nicht zur Entscheidung an.

Sachverhalt:
Die Beschwerdeführer sind griechische Staatsangehörige. Ihre Eltern
wurden am 10. Juni 1944 im Zuge einer an den Einwohnern der griechischen
Ortschaft Distomo verübten „Vergeltungsaktion“ von Angehörigen einer in
die deutschen Besatzungstruppen eingegliederten SS-Einheit erschossen,
nachdem es zuvor zu einer bewaffneten Auseinandersetzung mit Partisanen
gekommen war. Insgesamt töteten die Soldaten zwischen 200 und 300 der –
an den Partisanenkämpfen unbeteiligten – Dorfbewohner, darunter vor
allem alte Menschen, Frauen und Kinder. Das Dorf wurde niedergebrannt.
Die damals minderjährigen Beschwerdeführer erlitten in Folge des
Verlustes ihrer Eltern – von materiellen Schäden abgesehen – psychische
Schäden sowie Nachteile in ihrer beruflichen Ausbildung und ihrem
Fortkommen. Eine gegen die Bundesrepublik Deutschland im September 1995
eingereichte Klage der Beschwerdeführer auf Schadensersatz blieb vor dem
Landgericht, dem Oberlandesgericht und dem Bundesgerichtshof erfolglos.
Demgegenüber hatte in einem in Griechenland geführten Parallelverfahren,
an dem unter anderem die Beschwerdeführer beteiligt waren, das
zuständige Landgericht Livadeia im Oktober 1997 entschieden, dass die
wegen desselben Sachverhalts geltend gemachten Schadensersatzansprüche
begründet seien.

Dem Nichtannahmebeschluss liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen
zu Grunde:

1. Der Bundesgerichtshof hat eine Bindung an das Urteil des griechischen
Landgerichts Livadeia zu Recht abgelehnt. Nach geltendem Völkerrecht
kann ein Staat Befreiung von der Gerichtsbarkeit eines anderen
Staates beanspruchen, soweit es – wie hier – um die Beurteilung
seines hoheitlichen Verhaltens geht.

2. Art. 14 Abs. 1 GG (Eigentumsgarantie) ist nicht verletzt. Die
Beschwerdeführer haben weder völkerrechtliche noch amtshaftungs- oder
aufopferungsrechtliche Ersatz- und Entschädigungsansprüche.

Art. 3 des IV. Haager Abkommens, wonach eine Kriegspartei im Falle
eines Verstoßes gegen die Haager Landkriegsordnung grundsätzlich zum
Schadensersatz verpflichtet ist, begründet keinen individuellen
Entschädigungsanspruch. Er regelt einen sekundären
Schadensersatzanspruch, der nur in dem Völkerrechtsverhältnis
zwischen den betroffenen Staaten besteht.

Den Beschwerdeführern steht auch kein Anspruch aus dem Gesichtspunkt
der Amtshaftung zu. Im vorliegenden Fall gelangt der
Haftungsausschluss in § 7 RBHG a. F. zur Anwendung, wonach
Angehörigen eines ausländischen Staates ein Amtshaftungsanspruch
gegen die Bundesrepublik Deutschland nur dann zustand, wenn durch
Gesetzgebung des ausländischen Staates oder durch Staatsvertrag die
Gegenseitigkeit verbürgt war. Eine solche Verbürgung seitens
Griechenlands gegenüber Deutschland lag im Zeitpunkt des Geschehens
aber nicht vor. Der Haftungsausschluss ist anwendbar, weil das
Geschehen in Distomo als formell dem Kriegsvölkerrecht unterliegender
Sachverhalt zu qualifizieren ist, dem kein spezifisch
nationalsozialistisches Unrecht eigen und der deshalb nicht dem
getrennt geregelten Bereich der Wiedergutmachung von NS-Unrecht
zuzuordnen ist.

Die Ablehnung von Entschädigungsansprüchen aus enteignungsgleichem
Eingriff und Aufopferung ist ebenfalls verfassungsrechtlich
unbedenklich. Diese Anspruchsgrundlage, die für Sachverhalte des
alltäglichen Verwaltungshandelns entwickelt wurde, kann nach der
maßgeblichen deutschen Rechtsordnung auf Kriegsschäden nicht
angewendet werden.

3. Auch der allgemeine Gleichheitssatz in seiner Bedeutung als
Willkürverbot ist nicht verletzt. Dem Gesetzgeber ist es nicht
verwehrt, zwischen einem allgemeinen, wenn auch harten und mit
Verstößen gegen das Völkerrecht einhergehenden Kriegsschicksal
einerseits und Opfern von in besonderer Weise ideologisch motivierten
Verfolgungsmaßnahmen des nationalsozialistischen Unrechtsregimes
andererseits zu unterscheiden. Des weiteren hat sich die
Bundesrepublik Deutschland durch Reparationsleistungen und
Entschädigungszahlungen auf der Grundlage bilateraler Abkommen ihrer
völkerrechtlichen Verantwortung gestellt. Bei aller prinzipiellen
Unzulänglichkeit der Wiedergutmachung menschlichen Leids durch
finanzielle Mittel ist dadurch – und mittels der internationalen und
europäischen Zusammenarbeit – versucht worden, einen Zustand näher am
Völkerrecht herzustellen.

Pressemitteilung Nr. 14/2006 vom 3. März 2006

Zum Beschluss vom 15. Februar 2006 – 2 BvR 1476/03 –