03 März 2006

BVerfG zu NS-Verbrechen

Keine Schadensersatzpflicht der Bundesrepublik Deutschland gegenüber Geschädigten des SS-Massakers in Distomo

Die Verfassungsbeschwerde der vier Beschwerdeführer betrifft die Frage
der Schadensersatz- und Entschädigungspflicht der Bundesrepublik
Deutschland für während der Besetzung Griechenlands im Zweiten Weltkrieg
von Angehörigen der deutschen Streitkräfte verübte
„Vergeltungsmaßnahmen“. Die 1. Kammer des Zweiten Senats des
Bundesverfassungsgerichts nahm die Verfassungsbeschwerde, die sich gegen
die eine Ersatzpflicht ablehnenden gerichtlichen Entscheidungen wandte,
nicht zur Entscheidung an.

Sachverhalt:
Die Beschwerdeführer sind griechische Staatsangehörige. Ihre Eltern
wurden am 10. Juni 1944 im Zuge einer an den Einwohnern der griechischen
Ortschaft Distomo verübten „Vergeltungsaktion“ von Angehörigen einer in
die deutschen Besatzungstruppen eingegliederten SS-Einheit erschossen,
nachdem es zuvor zu einer bewaffneten Auseinandersetzung mit Partisanen
gekommen war. Insgesamt töteten die Soldaten zwischen 200 und 300 der –
an den Partisanenkämpfen unbeteiligten – Dorfbewohner, darunter vor
allem alte Menschen, Frauen und Kinder. Das Dorf wurde niedergebrannt.
Die damals minderjährigen Beschwerdeführer erlitten in Folge des
Verlustes ihrer Eltern – von materiellen Schäden abgesehen – psychische
Schäden sowie Nachteile in ihrer beruflichen Ausbildung und ihrem
Fortkommen. Eine gegen die Bundesrepublik Deutschland im September 1995
eingereichte Klage der Beschwerdeführer auf Schadensersatz blieb vor dem
Landgericht, dem Oberlandesgericht und dem Bundesgerichtshof erfolglos.
Demgegenüber hatte in einem in Griechenland geführten Parallelverfahren,
an dem unter anderem die Beschwerdeführer beteiligt waren, das
zuständige Landgericht Livadeia im Oktober 1997 entschieden, dass die
wegen desselben Sachverhalts geltend gemachten Schadensersatzansprüche
begründet seien.

Dem Nichtannahmebeschluss liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen
zu Grunde:

1. Der Bundesgerichtshof hat eine Bindung an das Urteil des griechischen
Landgerichts Livadeia zu Recht abgelehnt. Nach geltendem Völkerrecht
kann ein Staat Befreiung von der Gerichtsbarkeit eines anderen
Staates beanspruchen, soweit es – wie hier – um die Beurteilung
seines hoheitlichen Verhaltens geht.

2. Art. 14 Abs. 1 GG (Eigentumsgarantie) ist nicht verletzt. Die
Beschwerdeführer haben weder völkerrechtliche noch amtshaftungs- oder
aufopferungsrechtliche Ersatz- und Entschädigungsansprüche.

Art. 3 des IV. Haager Abkommens, wonach eine Kriegspartei im Falle
eines Verstoßes gegen die Haager Landkriegsordnung grundsätzlich zum
Schadensersatz verpflichtet ist, begründet keinen individuellen
Entschädigungsanspruch. Er regelt einen sekundären
Schadensersatzanspruch, der nur in dem Völkerrechtsverhältnis
zwischen den betroffenen Staaten besteht.

Den Beschwerdeführern steht auch kein Anspruch aus dem Gesichtspunkt
der Amtshaftung zu. Im vorliegenden Fall gelangt der
Haftungsausschluss in § 7 RBHG a. F. zur Anwendung, wonach
Angehörigen eines ausländischen Staates ein Amtshaftungsanspruch
gegen die Bundesrepublik Deutschland nur dann zustand, wenn durch
Gesetzgebung des ausländischen Staates oder durch Staatsvertrag die
Gegenseitigkeit verbürgt war. Eine solche Verbürgung seitens
Griechenlands gegenüber Deutschland lag im Zeitpunkt des Geschehens
aber nicht vor. Der Haftungsausschluss ist anwendbar, weil das
Geschehen in Distomo als formell dem Kriegsvölkerrecht unterliegender
Sachverhalt zu qualifizieren ist, dem kein spezifisch
nationalsozialistisches Unrecht eigen und der deshalb nicht dem
getrennt geregelten Bereich der Wiedergutmachung von NS-Unrecht
zuzuordnen ist.

Die Ablehnung von Entschädigungsansprüchen aus enteignungsgleichem
Eingriff und Aufopferung ist ebenfalls verfassungsrechtlich
unbedenklich. Diese Anspruchsgrundlage, die für Sachverhalte des
alltäglichen Verwaltungshandelns entwickelt wurde, kann nach der
maßgeblichen deutschen Rechtsordnung auf Kriegsschäden nicht
angewendet werden.

3. Auch der allgemeine Gleichheitssatz in seiner Bedeutung als
Willkürverbot ist nicht verletzt. Dem Gesetzgeber ist es nicht
verwehrt, zwischen einem allgemeinen, wenn auch harten und mit
Verstößen gegen das Völkerrecht einhergehenden Kriegsschicksal
einerseits und Opfern von in besonderer Weise ideologisch motivierten
Verfolgungsmaßnahmen des nationalsozialistischen Unrechtsregimes
andererseits zu unterscheiden. Des weiteren hat sich die
Bundesrepublik Deutschland durch Reparationsleistungen und
Entschädigungszahlungen auf der Grundlage bilateraler Abkommen ihrer
völkerrechtlichen Verantwortung gestellt. Bei aller prinzipiellen
Unzulänglichkeit der Wiedergutmachung menschlichen Leids durch
finanzielle Mittel ist dadurch – und mittels der internationalen und
europäischen Zusammenarbeit – versucht worden, einen Zustand näher am
Völkerrecht herzustellen.

Pressemitteilung Nr. 14/2006 vom 3. März 2006

Zum Beschluss vom 15. Februar 2006 – 2 BvR 1476/03 –