Todesurteile von 1944 gegen zwei Jugendliche kraft Gesetzes aufgehoben
- daher kein Raum für Wiederaufnahmeverfahren
Am 13. September 1944 wurden die beiden damals erst 14-jährigen
Jugendlichen Karl S. und Johann H. in Aachen zusammen mit einer Gruppe
von Erwachsenen durch Wehrmachtsangehörige unter dem Vorwurf des
Plünderns festgenommen. Ein sogleich eingesetztes Standgericht
verurteilte die beiden Jungen zum Tode. Das Urteil wurde unmittelbar
danach durch Erschießen vollstreckt. Den Jungen wurde keine Gelegenheit
gegeben, Rechtsmittel einzulegen. Im Jahre 2003 wandten sich Angehörige
(Beschwerdeführer) der beiden Jugendlichen mit „Anträgen auf
Rehabilitierung“ an die Staatsanwaltschaft Aachen. Diese erteilte ihnen
die Bescheinigung, dass die Verurteilung aufgrund des Gesetzes zur
Aufhebung nationalsozialistischer Unrechtsurteile in der
Strafrechtspflege (NS-Aufhebungsgesetz) aufgehoben sei. Ein daraufhin
gestellter Antrag der Angehörigen auf Wiederaufnahme des
standgerichtlichen Verfahrens mit dem Ziel, die beiden hingerichteten
Jungen vom Vorwurf der Plünderung freizusprechen, wurde in letzter
Instanz vom Oberlandesgericht Köln als unzulässig verworfen. Ihre
hiergegen gerichtete Verfassungsbeschwerde blieb ohne Erfolg. Die 2.
Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts führt aus, dass
das Oberlandesgericht in verfassungsrechtlich nicht zu beanstandender
Weise davon ausgegangen ist, dass den Beschwerdeführern das
Wiederaufnahmeverfahren nicht mehr eröffnet ist, da die Urteile bereits
nach dem Gesetz zur Aufhebung nationalsozialistischer Unrechtsurteile in
der Strafrechtspflege aufgehoben sind.
Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zu Grunde:
Den Beschwerdeführern ist das Wiederaufnahmeverfahren nicht mehr
eröffnet, da es infolge der Aufhebung der Urteile nach dem NS-
Aufhebungsgesetz an einem „Anfechtungsgegenstand“ für ein
Wiederaufnahmeverfahren fehlt. Gegen die Verfassungsmäßigkeit des NS-
Aufhebungsgesetzes bestehen keine Bedenken, insbesondere ist es
verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, dass sich der Gesetzgeber in
rehabilitierungswürdigen Fällen der vorliegenden Art für eine pauschale
Aufhebung statt für eine Wiederaufnahme der einzelnen Verfahren
entschieden hat.
Das Wiederaufnahmeverfahren geht von im Grundsatz rechtsstaatlichen
Verhältnissen aus, unter denen im Einzelfall fehlerhafte
Verfahrensergebnisse auch nach Rechtskrafteintritt korrigiert werden
können. In Fällen der vorliegenden Art geht es dagegen um ein
systembedingtes reines Willkürverfahren, das aber bei Anwendung der
Vorschriften über die Wiederaufnahme des Verfahrens als Grundlage für
die Durchführung einer nachträglichen Beweisaufnahme dienen würde. Damit
käme diesem Verfahren ein Stellenwert zu, den es nicht verdient. Darüber
hinaus ist das herkömmliche Wiederaufnahmeverfahren zumindest
unzulänglich, die sich aus der Existenz nationalsozialistischer
Unrechtsurteile stellenden Probleme zu lösen. So müsste ein
Wiederaufnahmegrund vorliegen, was jedenfalls in Bezug auf die
Beibringung neuer Tatsachen oder Beweismittel allein schon wegen der
lange zurückliegenden Zeit unwahrscheinlich ist. Darüber hinaus sind die
Fährnisse eines Wiederaufnahmeverfahrens zur berücksichtigen. Wenn etwa
das von den jeweiligen Antragstellern beigebrachte neue Beweismittel
nicht geeignet ist, einen Freispruch herbeizuführen, etwa weil ein Zeuge
sich doch nicht mehr genau erinnern kann, wäre der Antrag auf
Wiederaufnahme als unbegründet zu verwerfen oder gar das frühere Urteil
aufrechtzuerhalten. Zudem ist zu bedenken, dass eine Aufrollung des
Einzelfalles häufig dadurch erschwert wird, dass die Verfahrensakten
absichtlich oder aufgrund von Kriegseinwirkungen vernichtet worden sind.
Bei der Frage, wie eine umfassende Rehabilitation erreicht werden kann,
ist schließlich auch die hohe Zahl der bis 1998 noch in Kraft gewesenen
NS-Unrechtsurteile, die auf mehrere Hunderttausende geschätzt wurde, zu
berücksichtigen. Allein dies macht deutlich, dass durch eine
detaillierte Neubeurteilung jedes einzelnen Sachverhaltes das
gesetzgeberische Ziel nicht zu erreichen war. Angesichts dieser Probleme
hat der Gesetzgeber die Grenzen seiner Gestaltungsmacht nicht
überschritten, wenn er statt einer gerichtlichen Aufhebung der
Einzelfälle eine gesetzliche Aufhebung der Entscheidungen anordnet.
Hierdurch wird dem Rehabilitierungsinteresse der Betroffenen aus
verfassungsrechtlicher Sicht hinreichend Genüge getan.
Pressemitteilung Nr. 26/2006 vom 31. März 2006
Zum Beschluss vom 8. März 2006 – 2 BvR 486/05 –