18 Dezember 2006

„eJustice“ – bürgernahe Justiz durch elektronische Kommunikation

Presseerklärung Berlin, 18. Dezember 2006

Bundesjustizministerin Brigitte Zypries hat auf dem ersten Nationalen Informations-Technologie-Gipfel die Bedeutung moderner Informationstechnologien für die Justiz hervorgehoben.

„Die Justiz hat längst eine Vorbildfunktion für die elektronische Gestaltung von Verfahrensabläufen übernommen. Von den neuen technischen Möglichkeiten profitieren Rechtssuchende und Justiz gleichermaßen. Elektronisch übersandte Dokumente sind schneller beim Gericht als Briefe und Faxe, und sie haben den Vorteil, dass man mit ihnen elektronische Akten anlegen kann. Das vermeidet unwirtschaftliche Medienbrüche, also die Umwandlung von elektronischen Dokumenten in Papierdokumente und umgekehrt. Gerichtsinterne Arbeitsabläufe können so effizienter gestaltet werden. Das ist eine wesentliche Voraussetzung dafür, dass Bürgerinnen und Bürger letztlich schneller zu ihrem Recht kommen“, erläuterte Bundesjustizministerin Brigitte Zypries.

Bei allen Bundesgerichten im Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Justiz (Bundesgerichtshof, Bundesverwaltungsgericht, Bundesfinanzhof und Bundespatentgericht) sowie beim Deutschen Patent- und Markenamt ist der elektronische Rechtsverkehr mittlerweile möglich.

Das Bundesministerium der Justiz und die Justizverwaltungen der Länder haben sich frühzeitig und erfolgreich bemüht, einheitliche Regeln und Verfahren für den elektronischen Rechtsverkehr zu entwickeln. Ergebnis ist ein einheitlicher Datensatz für justizielle Verfahren. Er ermöglicht es den Gerichten, instanzübergreifend elektronisch zu kommunizieren, ohne dass die übermittelten Daten für die elektronische Weiterverarbeitung wieder aufbereitet werden müssen. Schnittstelle zu den Verfahrensbeteiligten ist das Elektronische Gerichts- und Verwaltungspostfach (EGVP) mit der Verschlüsselungstechnologie OSCI-Transport als ebenenübergreifendem Kommunikationsstandard. Das EGVP wird mittlerweile nicht nur bei Bundesgerichten zur Abwicklung des elektronischen Rechtsverkehrs eingesetzt, sondern auch bei den Gerichten der Länder. Ab dem 1. Januar 2007 wird das EGVP für die Einreichung von elektronischen Anmeldungen zu den Handelsregistern und Genossenschaftsregistern genutzt. Hierfür kommt das EGVP nahezu flächendeckend in Deutschland zum Einsatz.

Auch auf europäischer Ebene strebt das Bundesministerium der Justiz an, grenzüberschreitende justizielle Verfahren durch den Einsatz moderner, standardisierter Informationstechnologien für den Rechtssuchenden zu vereinfachen. Erste Erfolge sind bei der von Deutschland und Frankreich initiierten Strafregistervernetzung zu verzeichnen: Kern des Projekts ist es, eine sichere elektronische Kommunikation zwischen den nationalen Strafregistern zu schaffen. Bisher müssen die Staatsanwaltschaften, die eine Auskunft aus einem ausländischen Strafregister brauchen, ein förmliches Rechtshilfeersuchen (in Papierform) in der Sprache des ersuchten Landes stellen. Weil die Auskunftsersuchen jetzt elektronisch übermittelt und beantwortet werden können, wird die Erteilung der Auskunft ganz erheblich beschleunigt. Die elektronische Strafregistervernetzung ist mittlerweile zwischen vier Mitgliedstaaten der Europäischen Union realisiert. Angestrebt wird eine Vernetzung aller Strafregister innerhalb Europas.

Die Modernisierung der Justiz durch den Einsatz moderner Informationstechnologien wird auch eine zentrale Rolle während der deutschen EU-Ratspräsidentschaft spielen. Im Mai 2007 wird eine europäische Konferenz in Bremen unter dem Motto „Work on E-Justice“ unter Beteiligung von IT-Unternehmen die Möglichkeiten der elektronischen Vernetzung und Standardisierung auch in anderen Justizbereichen ausloten.

27 Oktober 2006

BGH zur Regenwald-Werbung von Krombacher


Bundesgerichtshof hebt Verbot der Werbung einer Brauerei für das Regenwaldprojekt auf
Pressemitteilung des BGH Nr. 147/2006

Der u.a. für Wettbewerbsrecht zuständige I. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hatte auf Klagen von Wettbewerbsverbänden über die wettbewerbsrechtliche Beurteilung von zwei in den Jahren 2002 und 2003 auch im Fernsehen intensiv verbreiteter Werbekampagnen zu entscheiden, in denen die Brauerei Krombacher den Kunden versprochen hatte, für den Kauf eines Kasten Bieres 1 Quadratmeter Regenwald unter Einschaltung des World Wide Fund for Nature (WWF) nachhaltig zu schützen. Die Kläger halten diese Werbung wegen mangelnder Transparenz für wettbewerbswidrig, da sie keine Information enthalte, in welcher Form der Schutz gewährleistet werde. Zudem sehen sie in den konkreten Fällen einen Verstoß gegen das Irreführungsverbot, weil die Beklagte vermutlich nur einen geringen Betrag von wenigen Cent spenden würde, mit dem ein nachhaltiger Schutz kaum erreicht werden könne.
Das Landgericht und das Berufungsgericht haben den auf Unterlassung gerichteten Klagen gegen die im Jahr 2002 erfolgte Werbung stattgegeben. Entsprechend hat das Landgericht auf die Klage gegen die vergleichbare Aktion im Jahr 2003 entschieden. Die Revision bzw. Sprungrevision der beklagten Brauerei hatten Erfolg und führten zur Aufhebung der angefochtenen Urteile und zur Zurückverweisung der Sachen an die Instanzgerichte.
Der Bundesgerichtshof hat angenommen, dass die Verknüpfung der Förderung des Umweltprojekts mit dem Warenabsatz grundsätzlich zulässig sei. Es bestehe bei dieser Form der Werbung auch keine allgemeine Pflicht, über die Art und Weise der Unterstützung oder die Höhe der Zuwendung zu informieren. Der Gesetzgeber habe sich im Rahmen der UWG-Reform ausdrücklich gegen ein allgemeines Transparenzgebot entschieden. Die Verpflichtung zu aufklärenden Angaben könne daher – wie in den Fällen der Wertreklame – nur dann angenommen werden, wenn andernfalls die Gefahr einer unlauteren Beeinflussung des Verbrauchers durch Täuschung über den tatsächlichen Wert des Angebots, insbesondere über den Wert einer angebotenen Zusatzleistung gegeben sei. Dies sei vorliegend nicht der Fall. Soweit ein Unternehmer verspreche, ein bestimmtes Projekt zu unterstützen, bestehe der zusätzliche Kaufanreiz darin, dass der Verbraucher sich mit dem Kauf der Ware auch für das entsprechende Ziel engagieren könne. Wenn der Werbende nach Art und Umfang keine näher bestimmte Leistung versprochen habe, erwarte der Verbraucher deshalb nur, dass das werbende Unternehmen zeitnah überhaupt eine Sponsoringleistung erbringe und diese nicht so geringfügig sei, dass sie die werbliche Herausstellung nicht rechtfertige.
Die angegriffenen Werbemaßnahmen könnten daher nur unter dem Gesichtspunkt der irreführenden Werbung wettbewerbswidrig sein, wenn – wie von den Klägern behauptet - die beklagte Brauerei in ihrer Werbung zur Förderung des Regenwald-Projekts mehr versprochen als sie tatsächlich an Leistung erbracht habe und dadurch die berechtigten Erwartungen der Verbraucher in relevanter Weise enttäuscht worden seien. Da hierzu die Gerichte in den angefochtenen Entscheidungen keine bzw. keine ausreichenden Feststellungen getroffen hatten, wurden die Sachen an die Instanzgerichte zurückverwiesen.
Urteile vom 26. Oktober 2006 – I ZR 33/04 und I ZR 97/04
OLG Hamm, Urteil vom 13. Januar 2004 – 4 U 112/03; LG Siegen, Urteil vom 22. August 2003 – 7 O 50/03
LG Siegen, Urteil vom 21. Mai 2004 – 7 O 20/04
Karlsruhe, den 27. Oktober 2006

22 Juni 2006

BVerfG: Meinungsfreiheit und Schwangerschaftsabbruch

Unterlassungsanspruch bei mehrdeutigen Äußerungen

Die 1. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts hat erneut
klargestellt, dass sich die verfassungsrechtlichen Vorgaben für die
Deutung mehrdeutiger Tatsachenbehauptungen oder Werturteile grundlegend
unterscheiden, je nach dem, ob die nachträgliche Sanktionierung schon
erfolgter Äußerungen oder allein deren zukunftsgerichtete Abwehr in
Frage steht (vgl. hierzu auch Pressemitteilung Nr. 115/2005 vom 16.
November 2005).

Sachverhalt:
Im Oktober 1997 verteilten zwei Abtreibungsgegner Flugblätter auf dem
Gelände des Klinikums N. Auf der Vorderseite des Flugblatts wurde ein
Arzt für Frauenheilkunde und Geburtshilfe, der seine auf
Schwangerschaftsabbrüche spezialisierte Praxis als rechtlich
selbständigen Betrieb auf dem Gelände des Klinikums führt, namentlich
benannt. Auf der Rückseite des Flugblatts findet sich unter anderem
folgender Text: „Stoppen Sie den Kinder-Mord im Mutterschoß auf dem
Gelände des Klinikums, damals: Holocaust – heute: Babycaust“. Im Rahmen
eines zivilgerichtlichen Rechtsstreits nahm der Arzt die beiden
Abtreibungsgegner auf Unterlassung der Verbreitung der Aussagen auf dem
Flugblatt in Anspruch. Das Oberlandesgericht gab dem
Unterlassungsanspruch nicht statt. Die hiergegen gerichtete
Verfassungsbeschwerde hatte überwiegend Erfolg.

Die Abtreibungsgegner wurden wegen Beleidigung des Arztes und der
Klinikträgerin zu einer Geldstrafe verurteilt. Ihre
Verfassungsbeschwerde war teilweise erfolgreich.

Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zu Grunde:

1. Unterlassungsklage des Arztes

Das Oberlandesgericht sieht in der Äußerung „Kinder-Mord im
Mutterschoß“ nachvollziehbar eine mehrdeutige Aussage. Bei deren
Deutung geht es allerdings davon aus, dass der Begriff des „Mordes“
nicht im rechtstechnischen Sinne, sondern im Sinne des allgemeinen
Sprachgebrauchs zu verstehen sei und daher ein Unterlassungsanspruch
nicht bestehe. Dabei verkennt es, dass die verfassungsrechtlichen
Vorgaben für die Deutung mehrdeutiger Äußerungen sich grundlegend
unterscheiden, je nach dem, ob die nachträgliche Sanktionierung schon
erfolgter Äußerungen oder allein deren zukunftsgerichtete Abwehr in
Frage steht.

Allein für nachträglich an eine Äußerung anknüpfende rechtliche
Sanktionen – wie eine strafrechtliche Verurteilung oder die
zivilgerichtliche Verurteilung zum Widerruf oder zum Schadensersatz –
gilt im Interesse der Meinungsfreiheit, insbesondere zum Schutz vor
Einschüchterungseffekten bei mehrdeutigen Äußerungen, der Grundsatz,
dass die Sanktion nur in Betracht kommt, wenn die dem Äußernden
günstigeren Deutungsmöglichkeiten mit hinreichender Begründung
ausgeschlossen worden sind. Steht demgegenüber ein
zukunftsgerichteter Anspruch auf Unterlassung künftiger
Persönlichkeitsbeeinträchtigungen in Frage, wird die Meinungsfreiheit
nicht verletzt, wenn von dem Betroffenen im Interesse des
Persönlichkeitsschutzes anderer verlangt wird, den Inhalt seiner
mehrdeutigen Aussage gegebenenfalls klarzustellen. Geschieht dies
nicht, sind die nicht fern liegenden Deutungsmöglichkeiten zu Grunde
zu legen und es ist zu prüfen, ob die Äußerung in einer oder mehrerer
dieser Deutungsvarianten zu einer rechtswidrigen Beeinträchtigung des
Persönlichkeitsrechts führt. Diese Grundsätze sind nicht auf
Tatsachenaussagen begrenzt, sondern ebenso maßgeblich, wenn wie
vorliegend ein das Persönlichkeitsrecht beeinträchtigendes Werturteil
in Frage steht.

Nach diesen verfassungsrechtlichen Vorgaben musste das
Oberlandesgericht im Rahmen des Unterlassungsbegehrens auch die
andere mögliche Auslegung zu Grunde legen, nämlich die, dass „Mord“
im rechtstechnischen Sinne zu verstehen war. Dasselbe gilt für den
gegen den Arzt gerichteten Vergleich zwischen nationalsozialistischem
Holocaust und dem ihm angelasteten „Babycaust“. Auch insoweit handelt
es sich um eine mehrdeutige Äußerung. Sie konnte nicht nur als
Vorwurf einer verwerflichen Massentötung menschlichen Lebens
verstanden werden, sondern auch im Sinne einer unmittelbaren
Gleichsetzung von nationalsozialistischem Holocaust und der als
„Babycaust“ umschriebenen Tätigkeit des Beschwerdeführers.

2. Verurteilung der Abtreibungsgegner

Das Bundesverfassungsgericht stellte fest, dass die Verurteilung der
Abtreibungsgegner wegen Beleidigung des Arztes verfassungsrechtlich
nicht zu beanstanden sei. Nicht tragfähig seien jedoch die Erwägungen
des Gerichts dazu, dass auch eine Beleidigung zum Nachteil der
Klinikträgerin verwirklicht worden sei. Das Gericht hätte klären
müssen, ob sich die Äußerung auf die Klinikträgerin oder auf die im
Klinikum tätigen Einzelpersonen bezogen habe, da beide Formen der
Beleidigung unterschiedlichen verfassungsrechtlichen
Begründungsanforderungen unterliegen. Bejahe das Gericht
Mehrdeutigkeit, müsse es die für die Beschuldigten günstigere Deutung
der strafrechtlichen Beurteilung zu Grunde legen.

Pressemitteilung Nr. 55/2006 vom 22. Juni 2006

16 Mai 2006

BGH zu "Schrottimmobilien"

Bundesgerichtshof entscheidet zu kreditfinanzierten sogenannten „Schrottimmobilien“

Der u. a. für das Bankrecht zuständige XI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hatte darüber zu entscheiden, welche Rechte Verbrauchern zustehen, die ihren zur Finanzierung einer Eigentumswohnung geschlossenen Realkreditvertrag nach den Vorschriften des Haustürwiderrufsgesetzes widerrufen haben.

Die Kläger waren 1995 von einem Vermittler in ihrer Privatwohnung geworben worden, zum Zwecke der Steuerersparnis ohne nennenswertes Eigenkapital eine Eigentumswohnung zu kaufen. Sie schlossen deshalb zunächst einen entsprechenden notariellen Kaufvertrag ab und traten einer Mieteinnahmegesellschaft bei. Zur Finanzierung des Kaufpreises schloss sodann die beklagte Bausparkasse als Vertreterin einer Bank mit den Käufern einen Darlehensvertrag, wobei das den Käufern gewährte Vorausdarlehen mit Hilfe von zwei bei der Beklagten abgeschlossenen anzusparenden Bausparverträgen getilgt werden sollte. Eine Belehrung der Käufer und Darlehensnehmer nach dem Haustürwiderrufsgesetz erfolgte nicht. Die Käufer bestellten für die Bausparkasse eine Grundschuld an der gekauften Eigentumswohnung über die Darlehenssumme, übernahmen dafür die persönliche Haftung und unterwarfen sich der Zwangsvollstreckung in ihr gesamtes Vermögen. Nachdem die Kläger das aufgenommene Vorausdarlehen einige Jahre bedient hatten, widerriefen sie ihre Darlehensvertragserklärungen, da sie über ihr Widerrufsrecht nach dem Haustürwiderrufsgesetz nicht belehrt worden seien. Mit ihrer Klage wenden sie sich gegen die Zwangsvollstreckung der beklagten Bausparkasse, an die die darlehensgebende Bank ihre Ansprüche abgetreten hat. Sie machen insbesondere geltend, mit Rücksicht auf die unterbliebene Widerrufsbelehrung nach dem Haustürwiderrufsgesetz könnten sie die Rückzahlung des Darlehens verweigern und die Bausparkasse auf die gekaufte Eigentumswohnung verweisen. Außerdem behaupten sie, über die mit der Eigentumswohnung verbundenen Risiken, insbesondere die tatsächlich zu erzielende Miete und den Wert der Wohnung getäuscht bzw. nicht hinreichend aufgeklärt worden zu sein. Die Vorinstanzen haben die Klage abgewiesen. Das Berufungsgericht hat aber die Revision zugelassen.

Der XI. Zivilsenat hatte die Verhandlung zunächst zurückgestellt, um die Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften (EuGH) auf die Vorlage des Landgerichts Bochum (WM 2003, 1609) in einer Sache abzuwarten, an der die beklagte Bausparkasse beteiligt ist. Nachdem die Entscheidung des EuGH am 25. Oktober 2005 (WM 2005, 2079) ergangen ist, hatte der XI. Zivilsenat nun unter anderem zu entscheiden, welche Konsequenzen aus dem Urteil des EuGH zu ziehen sind. Er ist hierbei zu folgendem Ergebnis gelangt:

Es besteht auch im Hinblick auf die Europäische Haustürgeschäfterichtlinie kein Anlass, die ständige Rechtsprechung des Senats zu ändern, nach welcher der Verbraucher nach dem Widerruf des Darlehensvertrages gemäß § 3 Haustürwiderrufsgesetz (HWiG) zur sofortigen Rückzahlung der Darlehensvaluta zuzüglich marktüblicher Zinsen verpflichtet ist. Der EuGH hat ausdrücklich betont, dass dies auch in Fällen, in denen die Darlehensvaluta nach dem für die Kapitalanlage entwickelten Konzept unmittelbar an den Verkäufer zum Erwerb der Immobilie ausgezahlt wird, der Haustürgeschäfterichtlinie entspricht. Auch soweit der EuGH gemeint hat, Art. 4 der Haustürgeschäfterichtlinie verpflichte die Mitgliedstaaten, dafür zu sorgen, den Verbraucher vor den Risiken einer kreditfinanzierten Kapitalanlage zu schützen, die er im Falle einer Widerrufsbelehrung der kreditgebenden Bank hätte vermeiden können, bestehen weder Grund noch Möglichkeit zu einer anderslautenden richtlinienkonformen Auslegung des § 3 HWiG.

Die Frage, ob im Hinblick auf die genannte Vorgabe des EuGH aus der unterbliebenen Widerrufsbelehrung – wie in Literatur und Rechtsprechung zum Teil vertreten - ein Schadensersatzanspruch der Kläger folgen könnte, hat der Senat offen gelassen. Ein derartiger Schadensersatzanspruch wegen unterbliebener Widerrufsbelehrung scheidet hier nämlich schon wegen Fehlens der erforderlichen Kausalität aus, weil die Kläger den Kaufvertrag bereits geschlossen hatten, bevor es zum Abschluss des Darlehensvertrages kam. Die Erteilung einer Widerrufsbelehrung konnte sie daher vor den Risiken ihres Immobilienkaufs nicht mehr schützen.

Der XI. Zivilsenat hat aber im Interesse der Effektivierung des Verbraucherschutzes bei realkreditfinanzierten Wohnungskäufen und Immobilienfondsbeteiligungen, die nicht als verbundene Geschäfte behandelt werden können, und um dem in den Entscheidungen des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften vom 25. Oktober 2005 zum Ausdruck kommenden Gedanken des Verbraucherschutzes vor Risiken von Kapitalanlagemodellen im nationalen Recht Rechnung zu tragen, seine Rechtsprechung zum Bestehen von eigenen Aufklärungspflichten der kreditgebenden Bank in diesen Fällen ergänzt. Danach können sich die Anleger in Fällen eines institutionalisierten Zusammenwirkens der kreditgebenden Bank mit dem Verkäufer oder Vertreiber des finanzierten Objekts unter erleichterten Voraussetzungen mit Erfolg auf einen die Aufklärungspflicht auslösenden konkreten Wissensvorsprung der finanzierenden Bank im Zusammenhang mit einer arglistigen Täuschung des Anlegers durch unrichtige Angaben der Vermittler, Verkäufer oder Fondsinitiatoren bzw. des Fondsprospekts über das Anlageobjekt berufen. Die eine eigene Aufklärungspflicht auslösende Kenntnis der Bank von einer solchen arglistigen Täuschung wird widerleglich vermutet, wenn Verkäufer oder Fondsinitiatoren, die von ihnen beauftragten Vermittler und die finanzierende Bank in institutionalisierter Art und Weise zusammenwirken, auch die Finanzierung der Kapitalanlage vom Verkäufer oder Vermittler angeboten wurde und die Unrichtigkeit der Angaben des Verkäufers, Fondsinitiators oder der für sie tätigen Vermittler bzw. des Verkaufs- oder Fondsprospekts nach den Umständen des Falles evident ist, so dass sich aufdrängt, die Bank habe sich der Kenntnis der arglistigen Täuschung geradezu verschlossen.

Der Bundesgerichtshof hat das Berufungsurteil aufgehoben und die Sache an das Berufungsgericht zurückverwiesen, damit dieses Feststellungen zu der von den Klägern behaupteten arglistigen Täuschung und der Frage eines institutionalisierten Zusammenwirkens der beklagten Bausparkasse mit den Vermittlern treffen kann.

Urteil vom 16. Mai 2006 – XI ZR 6/04
OLG Hamm, Urteil vom 1. Dezember 2003 – 5 U 125/03
LG Dortmund, Urteil vom 4. April 2003 – 6 O 504/02
Karlsruhe, den 16. Mai 2006

31 März 2006

BVerfG zu Todesurteilen des NS-Regimes

Todesurteile von 1944 gegen zwei Jugendliche kraft Gesetzes aufgehoben
- daher kein Raum für Wiederaufnahmeverfahren


Am 13. September 1944 wurden die beiden damals erst 14-jährigen
Jugendlichen Karl S. und Johann H. in Aachen zusammen mit einer Gruppe
von Erwachsenen durch Wehrmachtsangehörige unter dem Vorwurf des
Plünderns festgenommen. Ein sogleich eingesetztes Standgericht
verurteilte die beiden Jungen zum Tode. Das Urteil wurde unmittelbar
danach durch Erschießen vollstreckt. Den Jungen wurde keine Gelegenheit
gegeben, Rechtsmittel einzulegen. Im Jahre 2003 wandten sich Angehörige
(Beschwerdeführer) der beiden Jugendlichen mit „Anträgen auf
Rehabilitierung“ an die Staatsanwaltschaft Aachen. Diese erteilte ihnen
die Bescheinigung, dass die Verurteilung aufgrund des Gesetzes zur
Aufhebung nationalsozialistischer Unrechtsurteile in der
Strafrechtspflege (NS-Aufhebungsgesetz) aufgehoben sei. Ein daraufhin
gestellter Antrag der Angehörigen auf Wiederaufnahme des
standgerichtlichen Verfahrens mit dem Ziel, die beiden hingerichteten
Jungen vom Vorwurf der Plünderung freizusprechen, wurde in letzter
Instanz vom Oberlandesgericht Köln als unzulässig verworfen. Ihre
hiergegen gerichtete Verfassungsbeschwerde blieb ohne Erfolg. Die 2.
Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts führt aus, dass
das Oberlandesgericht in verfassungsrechtlich nicht zu beanstandender
Weise davon ausgegangen ist, dass den Beschwerdeführern das
Wiederaufnahmeverfahren nicht mehr eröffnet ist, da die Urteile bereits
nach dem Gesetz zur Aufhebung nationalsozialistischer Unrechtsurteile in
der Strafrechtspflege aufgehoben sind.

Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zu Grunde:
Den Beschwerdeführern ist das Wiederaufnahmeverfahren nicht mehr
eröffnet, da es infolge der Aufhebung der Urteile nach dem NS-
Aufhebungsgesetz an einem „Anfechtungsgegenstand“ für ein
Wiederaufnahmeverfahren fehlt. Gegen die Verfassungsmäßigkeit des NS-
Aufhebungsgesetzes bestehen keine Bedenken, insbesondere ist es
verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, dass sich der Gesetzgeber in
rehabilitierungswürdigen Fällen der vorliegenden Art für eine pauschale
Aufhebung statt für eine Wiederaufnahme der einzelnen Verfahren
entschieden hat.

Das Wiederaufnahmeverfahren geht von im Grundsatz rechtsstaatlichen
Verhältnissen aus, unter denen im Einzelfall fehlerhafte
Verfahrensergebnisse auch nach Rechtskrafteintritt korrigiert werden
können. In Fällen der vorliegenden Art geht es dagegen um ein
systembedingtes reines Willkürverfahren, das aber bei Anwendung der
Vorschriften über die Wiederaufnahme des Verfahrens als Grundlage für
die Durchführung einer nachträglichen Beweisaufnahme dienen würde. Damit
käme diesem Verfahren ein Stellenwert zu, den es nicht verdient. Darüber
hinaus ist das herkömmliche Wiederaufnahmeverfahren zumindest
unzulänglich, die sich aus der Existenz nationalsozialistischer
Unrechtsurteile stellenden Probleme zu lösen. So müsste ein
Wiederaufnahmegrund vorliegen, was jedenfalls in Bezug auf die
Beibringung neuer Tatsachen oder Beweismittel allein schon wegen der
lange zurückliegenden Zeit unwahrscheinlich ist. Darüber hinaus sind die
Fährnisse eines Wiederaufnahmeverfahrens zur berücksichtigen. Wenn etwa
das von den jeweiligen Antragstellern beigebrachte neue Beweismittel
nicht geeignet ist, einen Freispruch herbeizuführen, etwa weil ein Zeuge
sich doch nicht mehr genau erinnern kann, wäre der Antrag auf
Wiederaufnahme als unbegründet zu verwerfen oder gar das frühere Urteil
aufrechtzuerhalten. Zudem ist zu bedenken, dass eine Aufrollung des
Einzelfalles häufig dadurch erschwert wird, dass die Verfahrensakten
absichtlich oder aufgrund von Kriegseinwirkungen vernichtet worden sind.
Bei der Frage, wie eine umfassende Rehabilitation erreicht werden kann,
ist schließlich auch die hohe Zahl der bis 1998 noch in Kraft gewesenen
NS-Unrechtsurteile, die auf mehrere Hunderttausende geschätzt wurde, zu
berücksichtigen. Allein dies macht deutlich, dass durch eine
detaillierte Neubeurteilung jedes einzelnen Sachverhaltes das
gesetzgeberische Ziel nicht zu erreichen war. Angesichts dieser Probleme
hat der Gesetzgeber die Grenzen seiner Gestaltungsmacht nicht
überschritten, wenn er statt einer gerichtlichen Aufhebung der
Einzelfälle eine gesetzliche Aufhebung der Entscheidungen anordnet.
Hierdurch wird dem Rehabilitierungsinteresse der Betroffenen aus
verfassungsrechtlicher Sicht hinreichend Genüge getan.

Pressemitteilung Nr. 26/2006 vom 31. März 2006

Zum Beschluss vom 8. März 2006 – 2 BvR 486/05 –

09 März 2006

BVerfG zur unentgeltlichen Rechtsberatung

Unentgeltliche Rechtsberatung durch berufserfahrenen Juristen

Die Verfassungsbeschwerde eines pensionierten Richters, der schon seit
langem um die Anerkennung der „altruistischen Rechtsberatung“ kämpft,
gegen seine Nichtzulassung als Wahlverteidiger in einem Strafverfahren
war erfolgreich. Das Landgericht und das Oberlandesgericht hatten die
Zulassung als Verteidiger versagt, weil der Beschwerdeführer, der
bereits zweimal wegen unerlaubter geschäftsmäßiger Besorgung fremder
Rechtsangelegenheiten verurteilt worden war, die nach Art. 1 § 1
Rechtsberatungsgesetz erforderliche Erlaubnis nicht besitze. Eine
behördliche Erlaubnis sei auch für die unentgeltliche, rein
altruistische Rechtsberatung notwendig, sofern sie geschäftsmäßig und
nicht nur einmalig betrieben werde. Weil die Tätigkeit des
Beschwerdeführers einen erneuten Verstoß gegen das Rechtsberatungsgesetz
bedeute, komme eine Zulassung als Wahlverteidiger nicht in Betracht.

Die 1. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts hob die
angegriffene Entscheidung des Oberlandesgerichts auf. Die Nichtzulassung
des Beschwerdeführers als Wahlverteidiger im Strafverfahren stelle einen
nicht gerechtfertigten Eingriff in seine allgemeine Handlungsfreiheit
(Art. 2 Abs. 1 GG) dar. Die Sache wurde zu neuer Entscheidung an das
Oberlandesgericht zurückverwiesen.

Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zu Grunde:
Das Bundesverfassungsgericht hatte bereits in seiner Entscheidung vom
29. Juli 2004 (vgl. Pressemitteilung Nr. 76/2004 vom 5. August 2004) das
Verbot der unentgeltlichen Rechtsberatung durch einen Volljuristen in
Frage gestellt. Der Begriff der Geschäftsmäßigkeit in Art. 1 § 1
Rechtsberatungsgesetz könne unter Abwägung der Schutzzwecke des
Rechtsberatungsgesetzes einerseits und des Grundrechts der allgemeinen
Handlungsfreiheit andererseits eine Auslegung erfordern, die die
unentgeltliche Rechtsbesorgung durch einen berufserfahrenen Juristen
nicht erfasst.

Nach den Grundsätzen dieser Entscheidung kann Art. 1 § 1
Rechtsberatungsgesetz auf die von dem Beschwerdeführer ausgeübte
unentgeltliche Rechtsberatung keine Anwendung finden, wenn bei der
Auslegung des Begriffs der „Geschäftsmäßigkeit“ die grundrechtlich
garantierte Handlungsfreiheit des Beschwerdeführers hinreichende
Beachtung findet. Ein vermeintlicher Verstoß gegen Art. 1 § 1
Rechtsberatungsgesetz kann damit auch nicht als Begründung zur Versagung
einer Genehmigung als Wahlverteidiger im Strafverfahren herangezogen
werden. Indem das Oberlandesgericht die Reichweite des Grundrechts der
allgemeinen Handlungsfreiheit nicht erkannt und einseitig die auf einer
überholten Auslegung des Rechtsberatungsgesetzes gestützten Bedürfnisse
der Rechtspflege in die Abwägung eingestellt hat, liegt ein
schwerwiegender Fehler bei der Ermessensentscheidung über die Bestellung
als Wahlverteidiger vor.

Pressemitteilung Nr. 17/2006 vom 9. März 2006

Zum Beschluss vom 16. Februar 2006 – 2 BvR 951/04 und 2 BvR 1087/04 –

08 März 2006

BGH: MietR-Betriebskosten

Der Beklagte ist Mieter einer nicht preisgebundenen Wohnung der Klägerin in Berlin. Mit ihrer Klage hat die Klägerin unter anderem Zahlung rückständiger Mieten sowie Nachforderungen aus Betriebskostenabrechnungen verlangt. Der Beklagte hat beanstandet, dass die Klägerin die im selben Gebäude befindlichen Gewerbeflächen und die darauf entfallenden Kosten in den Betriebskostenabrechnungen nicht vorweg abgezogen und ihm darüber hinaus trotz eines entsprechenden Verlangens keine Fotokopien zu den einzelnen Abrechnungsbelegen überlassen habe. Im Übrigen hat der Beklagte wegen der von ihm beanstandeten Abrechnungsweise die Aufrechnung erklärt und Widerklage erhoben. Das Berufungsgericht hat der Klage im Wesentlichen stattgegeben und die Widerklage insgesamt abgewiesen.

Der unter anderem für das Wohnraummietrecht zuständige VIII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat die Revision des Beklagten zurückgewiesen.

Der Bundesgerichtshof hat ausgeführt, dass bei der Abrechnung des Vermieters von preisfreiem Wohnraum über Betriebskosten soweit die Parteien nichts anderes vereinbart haben ein Vorwegabzug der Kosten, die auf die in einem gemischt genutzten Gebäude befindlichen Gewerbeflächen entfallen, jedenfalls dann nicht geboten ist, wenn sie hinsichtlich aller oder einzelner Betriebskostenarten nicht zu einer ins Gewicht fallenden Mehrbelastung der Wohnraummieter führen. Der Vorwegabzug ist nur für bestimmte Mietverhältnisse im öffentlich geförderten Wohnungsbau gesetzlich vorgeschrieben (§ 20 Abs. 2 Satz 2 der Neubaumietenverordnung). Er soll verhindern, dass die Wohnungsmieter mit Kosten belastet werden, die allein oder in höherem Maße aufgrund einer gewerblichen Nutzung in gemischt genutzten Objekten entstehen. Dem Wohnungsmieter entsteht jedoch kein Nachteil, wenn er durch die Umlage der auf das Gebäude entfallenden Gesamtkosten nach einem einheitlich für alle Mieter geltenden Maßstab nicht schlechter gestellt wird als im Falle einer Voraufteilung zwischen Wohn- und Gewerbeflächen. Hierdurch wird auch dem Interesse beider Mietvertragsparteien an einer Vereinfachung der Abrechnung Rechnung getragen. Nach diesen Grundsätzen waren die Betriebskostenabrechnungen der Klägerin ordnungsgemäß. Das Berufungsgericht hatte angenommen, die in dem Gebäude befindlichen fünf Gewerbebetriebe darunter ein Job-Center und ein Internet-Café hätten keine erhebliche Mehrbelastung hinsichtlich der einzelnen Betriebskostenarten verursacht. Diese Würdigung des Berufungsgerichts, die vom Bundesgerichtshof nur auf das Vorliegen von Rechtsfehlern zu überprüfen ist, war aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden.

Des Weiteren hat der Bundesgerichtshof entschieden, dass der Mieter preisfreien Wohnraums grundsätzlich keinen Anspruch gegen den Vermieter auf Überlassung von Fotokopien der Abrechnungsbelege zur Betriebskostenabrechnung hat. Einen solchen Anspruch des Mieters sieht das Gesetz für den Bereich des preisfreien Wohnraumes nicht vor. Einer entsprechenden Anwendung des § 29 Abs. 2 Satz 1 der Neubaumietenverordnung, der für bestimmte preisgebundene Wohnraummietverhältnisse dem Mieter einen Anspruch auf Überlassung von Ablichtungen gegen Kostenerstattung einräumt, steht entgegen, dass eine dem Willen des Gesetzgebers zuwiderlaufende Regelungslücke des Gesetzes nicht vorliegt. Auch ein Anspruch des Mieters nach den Grundsätzen von Treu und Glauben (§ 242 BGB) auf Übersendung von Fotokopien war im vorliegenden Fall nicht gegeben. Der Vermieter kann ein berechtigtes Interesse daran haben, den Mieter auf die Einsichtnahme in die Rechnungsbelege zu verweisen die dessen Interesse an einer Überprüfung der Abrechnung in der Regel hinreichend Rechnung trägt , um den durch die Anfertigung von Fotokopien entstehenden zusätzlichen Aufwand zu vermeiden und dem Mieter mögliche Unklarheiten im Gespräch sofort zu erläutern. Hierdurch kann Fehlverständnissen der Abrechnung und zeitlichen Verzögerungen durch ein Verlangen des Mieters nach Übersendung weiterer Kopien von Rechnungsbelegen wie es auch der Beklagte, dem die Klägerin während des Rechtsstreits rund 300 Fotokopien von Abrechnungsbelegen übermittelt hatte, gestellt hatte vorgebeugt werden. Dieses Interesse des Vermieters würde nicht hinreichend berücksichtigt, wenn er dem Mieter stets auch gegen Kostenerstattung auf dessen Anforderung hin Belegkopien zu überlassen hätte.

Ein Anspruch des Mieters auf Übermittlung von Fotokopien kommt nach Treu und Glauben (§ 242 BGB) allerdings ausnahmsweise dann in Betracht, wenn ihm die Einsichtnahme in die Abrechnungsunterlagen in den Räumen des Vermieters nicht zugemutet werden kann. So lag der Fall hier jedoch nicht. Dass dem Beklagten die Einsichtnahme in den Geschäftsräumen der ebenfalls in Berlin gelegenen Hausverwaltung nicht unzumutbar war, hatte das Berufungsgericht mit rechtsfehlerfreien und von der Revision nicht beanstandeten Erwägungen angenommen.

Urteil vom 8. März 2006 VIII ZR 78/05

AG Berlin-Mitte 2 C 144/03 ./. LG Berlin 67 S 99/04

Karlsruhe, den 8. März 2006

Pressestelle des Bundesgerichtshof

07 März 2006

BVerfG zum Rückkauf von Kapitallebensversicherung

Zur Berechnung des Rückkaufswertes einer kapitalbildenden Lebensversicherung bei vorzeitiger Kündigung

Die Verfassungsbeschwerde eines Versicherungsnehmers, der im Jahr 1992
seine kapitalbildende Lebensversicherung vorzeitig gekündigt hatte, war
jedenfalls im Kern erfolgreich. Dieser hatte sich gegen die im Wege der
„Zillmerung“ erfolgte Berechnung des Rückkaufswertes seiner
Lebensversicherung gewandt. Lebensversicherungen mit „gezillmerter“
Prämie weisen die Grundstruktur auf, dass dem Versicherungsnehmer die
Vertragsabschlusskosten (insbesondere Vermittlungsprovision) nicht
gesondert in Rechnung gestellt werden, sondern mit der insgesamt zu
zahlenden Prämie verrechnet werden. Die Prämienhöhe wird so berechnet,
dass sie über die Gesamtlaufzeit des Vertrags gleich bleibt und dass
Prämienzahlungen zunächst dazu verwendet werden, die Abschlusskosten zu
decken. Dies führt dazu, dass der Rückkaufswert des
Lebensversicherungsvertrags in den ersten Jahren sehr niedrig ist oder
sogar entfällt. Die Rechtslage zur Zeit des hier streitgegenständlichen
Vertragsschlusses war zudem dadurch gekennzeichnet, dass die genaue
Berechnung der Zillmerung in dem den Versicherungsnehmern nicht
bekannten von der Aufsichtsbehörde genehmigten Geschäftsplan des
Versicherungsunternehmens dargestellt worden war. Für nach dem 28. Juli
1994 abgeschlossene Lebensversicherungsverträge gilt eine veränderte
Rechtslage. Allerdings hat die Neuregelung des Versicherungsrechts im
Jahr 1994 die Anwendbarkeit der vorliegend angegriffenen Berechnung des
Rückkaufswertes nach der Methode Zillmer nicht beseitigt.

Die 1. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts stellte
fest, dass der verfassungsrechtliche Schutzauftrag Vorkehrungen dafür
erfordere, dass die Versicherungsnehmer einer kapitalbildenden
Lebensversicherung erkennen können, in welcher Höhe Abschlusskosten mit
der Prämie verrechnet werden dürfen und dass sie bei einer vorzeitigen
Beendigung des Lebensversicherungsverhältnisses eine Rückvergütung
erhalten, deren Wert auch unter Berücksichtigung in Rechnung gestellter
Abschlusskosten in einem angemessenen Verhältnis zu den bis zu diesem
Zeitpunkt gezahlten Versicherungsprämien steht. Die Kammer hat die
Verfassungsbeschwerde gleichwohl nicht zur Entscheidung angenommen, da
ihr aufgrund der vorangegangenen Urteile des Ersten Senats des
Bundesverfassungsgerichts vom 26. Juli 2005 (Pressemitteilungen Nr. 66
und 67/2005 vom 26. Juli 2005) keine grundsätzliche Bedeutung mehr
zukomme.

Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zu Grunde:
1. Das Bundesverfassungsgericht hat in seinen Urteilen vom 26. Juli 2005
verfassungsrechtliche Schutzdefizite im Recht der kapitalbildenden
Lebensversicherung mit Überschussbeteiligung festgestellt.
Entsprechende Schutzdefizite sind auch bei der Verrechnung von
Abschlusskosten für den Fall vorzeitiger Vertragsauslösung nach dem
seinerzeit maßgeblichen Recht festzustellen:

Die in Art. 2 Abs. 1 und Art. 14 Abs. 1 GG enthaltenen
objektivrechtlichen Schutzaufträge erfordern Vorkehrungen dafür, dass
die Versicherungsnehmer über effektive Möglichkeiten zur Durchsetzung
ihrer Interessen verfügen. Bleiben den Versicherungsnehmern Art und
Höhe der zu verrechnenden Abschlusskosten und der Verrechnungsmodus
unbekannt, ist ihnen eine eigenbestimmte Entscheidung darüber
unmöglich, ob sie einen Vertrag zu den konkreten Konditionen
abschließen wollen. Darf – wie es der seinerzeitigen Rechtslage
entsprach – für die Berechnung auf den den Versicherungsnehmern nicht
bekannten Geschäftsplan verwiesen werden, fehlt es auch insofern an
der für eine autonome Entscheidung unabdingbaren Transparenz.

Darüber hinaus muss gesichert werden, dass die Versicherungsnehmer
bei einer vorzeitigen Beendigung des Lebensversicherungsverhältnisses
eine Rückvergütung erhalten, deren Wert auch unter Berücksichtigung
in Rechnung gestellter Abschlusskosten sowie des Risiko- und
Verwaltungskostenanteils in einem angemessenen Verhältnis zu den bis
zu diesem Zeitpunkt gezahlten Versicherungsprämien steht. Die mit dem
Abschluss eines Versicherungsvertrages verfolgte Zielsetzung der
Vermögensbildung darf nicht dadurch teilweise vereitelt werden, dass
hohe Abschlusskosten, deren konkrete Berechnung zudem den
Versicherungsnehmern nicht bekannt ist und deren Höhe von ihnen auch
nicht beeinflusst werden kann, in den ersten Jahren mit der Prämie so
verrechnet werden können, dass der Rückkaufswert in dieser Zeit
unverhältnismäßig gering ist oder gar gegen Null tendiert.

Fehlen Möglichkeiten der Versicherungsnehmer, ihre Belange insoweit
selbst effektiv zu verfolgen, trifft den Gesetzgeber ein
verfassungsrechtlicher Schutzauftrag. Diesem Auftrag ist er nicht in
ausreichendem Maße nachgekommen. Weder zivilrechtlich noch mit Hilfe
des Aufsichtsrechts konnte der Versicherungsnehmer nach dem für den
Versicherungsvertrag des Beschwerdeführers maßgebenden Recht eine
angemessene Berücksichtigung seiner Belange erwirken. Die
Zivilgerichte verwiesen auf die öffentlichrechtliche Genehmigung des
Geschäftsplans und nahmen insoweit eine eigene inhaltliche Prüfung
nicht vor. Eine Kompensation dieses Rechtsschutzdefizits durch das
Versicherungsaufsichtsrecht fand nicht statt. Die Aufsichtsbehörde
beschränkte sich grundsätzlich auf eine – nicht auf das einzelne
Versicherungsvertragsverhältnis bezogene – Missbrauchsaufsicht.

2. Für die aktuell geltende Rechtslage hat sich allerdings dadurch eine
Änderung ergeben, dass der Bundesgerichtshof mit Urteil vom 12.
Oktober 2005 im Wege der ergänzenden Vertragsauslegung Grenzen der
Verrechung der Abschlusskosten bei vorzeitiger Vertragsauflösung
festgelegt hat. Er hat damit eine zivilrechtliche Lösung
bereitgestellt, die auch Rechtsschutz im Rahmen der
Zivilgerichtsbarkeit ermöglicht. Nach dieser Rechtslage verbleibt es
zwar grundsätzlich bei der Verrechnung der geleisteten einmaligen
Abschlusskosten nach dem Zillmerungsverfahren. Für den Fall der
vorzeitigen Beendigung der Beitragszahlung ist jedenfalls die
versprochene Leistung geschuldet; der vereinbarte Beitrag der
beitragsfreien Versicherungssumme und des Rückkaufswertes darf aber
einen vom Bundesgerichtshof näher umschriebenen Mindestbetrag nicht
unterschreiten.

Aufgrund dieser Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs sowie aufgrund
der Urteile des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 26.
Juli 2005 haben die in der Verfassungsbeschwerde aufgeworfenen
Rechtsfragen keine grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung
mehr. Das Bundesverfassungsgericht hatte dem Gesetzgeber aufgegeben,
bis zum 31. Dezember 2007 eine mit den grundrechtlichen Vorgaben
vereinbare Regelung des Rechts der Lebensversicherung zu treffen. Es
ist zu erwarten, dass die vom Gesetzgeber zu schaffende Lösung auch
Sicherungen für größere Transparenz enthalten und Auswirkungen auf
die Be- und Verrechnung von Abschlusskosten haben wird.

Pressemitteilung Nr. 16/2006 vom 7. März 2006

Zum Beschluss vom 15. Februar 2006 – 1 BvR 1317/96 –

03 März 2006

BVerfG zu NS-Verbrechen

Keine Schadensersatzpflicht der Bundesrepublik Deutschland gegenüber Geschädigten des SS-Massakers in Distomo

Die Verfassungsbeschwerde der vier Beschwerdeführer betrifft die Frage
der Schadensersatz- und Entschädigungspflicht der Bundesrepublik
Deutschland für während der Besetzung Griechenlands im Zweiten Weltkrieg
von Angehörigen der deutschen Streitkräfte verübte
„Vergeltungsmaßnahmen“. Die 1. Kammer des Zweiten Senats des
Bundesverfassungsgerichts nahm die Verfassungsbeschwerde, die sich gegen
die eine Ersatzpflicht ablehnenden gerichtlichen Entscheidungen wandte,
nicht zur Entscheidung an.

Sachverhalt:
Die Beschwerdeführer sind griechische Staatsangehörige. Ihre Eltern
wurden am 10. Juni 1944 im Zuge einer an den Einwohnern der griechischen
Ortschaft Distomo verübten „Vergeltungsaktion“ von Angehörigen einer in
die deutschen Besatzungstruppen eingegliederten SS-Einheit erschossen,
nachdem es zuvor zu einer bewaffneten Auseinandersetzung mit Partisanen
gekommen war. Insgesamt töteten die Soldaten zwischen 200 und 300 der –
an den Partisanenkämpfen unbeteiligten – Dorfbewohner, darunter vor
allem alte Menschen, Frauen und Kinder. Das Dorf wurde niedergebrannt.
Die damals minderjährigen Beschwerdeführer erlitten in Folge des
Verlustes ihrer Eltern – von materiellen Schäden abgesehen – psychische
Schäden sowie Nachteile in ihrer beruflichen Ausbildung und ihrem
Fortkommen. Eine gegen die Bundesrepublik Deutschland im September 1995
eingereichte Klage der Beschwerdeführer auf Schadensersatz blieb vor dem
Landgericht, dem Oberlandesgericht und dem Bundesgerichtshof erfolglos.
Demgegenüber hatte in einem in Griechenland geführten Parallelverfahren,
an dem unter anderem die Beschwerdeführer beteiligt waren, das
zuständige Landgericht Livadeia im Oktober 1997 entschieden, dass die
wegen desselben Sachverhalts geltend gemachten Schadensersatzansprüche
begründet seien.

Dem Nichtannahmebeschluss liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen
zu Grunde:

1. Der Bundesgerichtshof hat eine Bindung an das Urteil des griechischen
Landgerichts Livadeia zu Recht abgelehnt. Nach geltendem Völkerrecht
kann ein Staat Befreiung von der Gerichtsbarkeit eines anderen
Staates beanspruchen, soweit es – wie hier – um die Beurteilung
seines hoheitlichen Verhaltens geht.

2. Art. 14 Abs. 1 GG (Eigentumsgarantie) ist nicht verletzt. Die
Beschwerdeführer haben weder völkerrechtliche noch amtshaftungs- oder
aufopferungsrechtliche Ersatz- und Entschädigungsansprüche.

Art. 3 des IV. Haager Abkommens, wonach eine Kriegspartei im Falle
eines Verstoßes gegen die Haager Landkriegsordnung grundsätzlich zum
Schadensersatz verpflichtet ist, begründet keinen individuellen
Entschädigungsanspruch. Er regelt einen sekundären
Schadensersatzanspruch, der nur in dem Völkerrechtsverhältnis
zwischen den betroffenen Staaten besteht.

Den Beschwerdeführern steht auch kein Anspruch aus dem Gesichtspunkt
der Amtshaftung zu. Im vorliegenden Fall gelangt der
Haftungsausschluss in § 7 RBHG a. F. zur Anwendung, wonach
Angehörigen eines ausländischen Staates ein Amtshaftungsanspruch
gegen die Bundesrepublik Deutschland nur dann zustand, wenn durch
Gesetzgebung des ausländischen Staates oder durch Staatsvertrag die
Gegenseitigkeit verbürgt war. Eine solche Verbürgung seitens
Griechenlands gegenüber Deutschland lag im Zeitpunkt des Geschehens
aber nicht vor. Der Haftungsausschluss ist anwendbar, weil das
Geschehen in Distomo als formell dem Kriegsvölkerrecht unterliegender
Sachverhalt zu qualifizieren ist, dem kein spezifisch
nationalsozialistisches Unrecht eigen und der deshalb nicht dem
getrennt geregelten Bereich der Wiedergutmachung von NS-Unrecht
zuzuordnen ist.

Die Ablehnung von Entschädigungsansprüchen aus enteignungsgleichem
Eingriff und Aufopferung ist ebenfalls verfassungsrechtlich
unbedenklich. Diese Anspruchsgrundlage, die für Sachverhalte des
alltäglichen Verwaltungshandelns entwickelt wurde, kann nach der
maßgeblichen deutschen Rechtsordnung auf Kriegsschäden nicht
angewendet werden.

3. Auch der allgemeine Gleichheitssatz in seiner Bedeutung als
Willkürverbot ist nicht verletzt. Dem Gesetzgeber ist es nicht
verwehrt, zwischen einem allgemeinen, wenn auch harten und mit
Verstößen gegen das Völkerrecht einhergehenden Kriegsschicksal
einerseits und Opfern von in besonderer Weise ideologisch motivierten
Verfolgungsmaßnahmen des nationalsozialistischen Unrechtsregimes
andererseits zu unterscheiden. Des weiteren hat sich die
Bundesrepublik Deutschland durch Reparationsleistungen und
Entschädigungszahlungen auf der Grundlage bilateraler Abkommen ihrer
völkerrechtlichen Verantwortung gestellt. Bei aller prinzipiellen
Unzulänglichkeit der Wiedergutmachung menschlichen Leids durch
finanzielle Mittel ist dadurch – und mittels der internationalen und
europäischen Zusammenarbeit – versucht worden, einen Zustand näher am
Völkerrecht herzustellen.

Pressemitteilung Nr. 14/2006 vom 3. März 2006

Zum Beschluss vom 15. Februar 2006 – 2 BvR 1476/03 –

15 Februar 2006

BVerfG: Kein Abschuss von Passagier-Flugzeugen

Bundesverfassungsgericht - Pressestelle -Pressemitteilung Nr. 11/2006 vom 15. Februar 2006Zum Urteil vom 15. Februar 2006 – 1 BvR 357/05 –

Abschussermächtigung im Luftsicherheitsgesetz nichtig

§ 14 Abs. 3 Luftsicherheitsgesetz (LuftSiG), der die Streitkräfte ermächtigt, Luftfahrzeuge, die als Tatwaffe gegen das Leben von Menschen eingesetzt werden sollen, abzuschießen, ist mit dem Grundgesetz unvereinbar und nichtig.
Dies entschied der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts mit Urteil vom 15. Februar 2006. Für die Regelung fehle es bereits an einer Gesetzgebungsbefugnis des Bundes.

Art. 35 Abs. 2 Satz 2 und Abs. 3 Satz 1 GG, der den Einsatz der Streitkräfte bei der Bekämpfung von Naturkatastrophen oder besonders schweren Unglücksfällen regelt, erlaube dem Bund nicht einen Einsatz der Streitkräfte mit spezifisch militärischen Waffen.
Darüber hinaus sei §14 Abs. 3 LuftSiG mit dem Grundrecht auf Leben und mit der Menschenwürdegarantie des Grundgesetzes nicht vereinbar, soweit von dem Einsatz der Waffengewalt tatunbeteiligte Menschen an Bord des Luftfahrzeugs betroffen werden. Diese würden dadurch, dass der Staat ihre Tötung als Mittel zur Rettung anderer benutzt, als bloße Objekte behandelt; ihnen werde dadurch der Wert abgesprochen, der dem Menschen um seiner selbst willen zukommt.
Damit war die Verfassungsbeschwerde von vier Rechtsanwälten, einem Patentanwalt und einem Flugkapitän, die sich unmittelbar gegen § 14 Abs.3 LuftSiG gewandt hatten, erfolgreich (zum Sachverhalt vgl.Pressemitteilung Nr. 101/2005 vom 17. Oktober 2005).

Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zu Grunde:

1. Dem Bund fehlt die Gesetzgebungsbefugnis zum Erlass der Regelung des § 14 Abs. 3 LuftSiG. Zwar hat er unmittelbar aus Art. 35 Abs. 2 Satz 2 und Abs. 3 Satz 1 GG das Recht zur Gesetzgebung für Regelungen, die das Nähere über den Einsatz der Streitkräfte bei der Bekämpfung von Naturkatastrophen und besonders schweren Unglücksfällen nach diesen Vorschriften und über das Zusammenwirken mit den beteiligten Ländern bestimmen. Allerdings steht die in § 14 Abs. 3 LuftSiG enthaltene Ermächtigung der Streitkräfte zur unmittelbaren Einwirkung auf ein Luftfahrzeug mit Waffengewalt mit Art. 35 Abs. 2 Satz 2 und Abs. 3 GG nicht im Einklang.

a) Die Unvereinbarkeit von § 14 Abs. 3 LuftSiG mit Art. 35 Abs. 2 Satz 2GG (regionaler Katastrophennotstand) ergibt sich allerdings nicht schon daraus, dass die Einsatzmaßnahme zu einem Zeitpunkt angeordnet und durchgeführt werden soll, zu dem sich zwar bereits ein erheblicher Luftzwischenfall ereignet hat (Entführung eines Flugzeugs), der besonders schwere Unglückfall selbst (beabsichtigter Flugzeugabsturz) aber noch nicht eingetreten ist. Denn der Begriff des besonders schweren Unglücksfalls im Sinne des Art. 35 Abs. 2 Satz 2 GG umfasst auch Vorgänge, die den Eintritt einer Katastrophe mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit erwarten lassen.
Jedoch wahrt die Einsatzmaßnahme der unmittelbaren Einwirkung auf ein Luftfahrzeug mit Waffengewalt deshalb nicht den Rahmen des Art. 35 Abs. 2 Satz 2 GG, weil diese Norm einen Kampfeinsatz der Streitkräfte mit spezifisch militärischen Waffen bei der Bekämpfung von Naturkatastrophen und besonders schweren Unglücksfällen nicht erlaubt.

Die „Hilfe“, von derArt. 35 Abs. 2 Satz 2 GG spricht, wird den Ländern gewährt, damit diese die ihnen im Rahmen der Gefahrenabwehr obliegende Aufgabe der Bewältigung von Naturkatastrophen und besonders schweren Unglückfällen wirksam erfüllen können.

Die Ausrichtung auf diese Aufgabe im Zuständigkeitsbereich der Gefahrenabwehrbehörden der Länder bestimmt notwendig auch die Art der Hilfsmittel, die beim Einsatz der Streitkräfte zum Zweck der Hilfeleistung verwendet werden dürfen. Sie können nicht von qualitativ anderer Art sein als diejenigen, die den Polizeikräften der Länder für die Erledigung ihrer Aufgaben originär zur Verfügung stehen.

b) § 14 Abs. 3 LuftSiG ist auch mit Art. 35 Abs. 3 Satz 1 GG nicht vereinbar. Danach ist im Fall des überregionalen Katastrophennotstands zum Einsatz der Streitkräfte ausdrücklich nur die Bundesregierung ermächtigt. Dem werden die Regelungen im Luftsicherheitsgesetz nicht in ausreichendem Maße gerecht. Sie sehen vor, dass der Verteidigungsminister im Benehmen mit dem Bundesinnenminister entscheidet, wenn eine rechtzeitige Entscheidung der Bundesregierungnicht möglich ist.
Angesichts des knappen Zeitbudgets, das im vorliegenden Zusammenhang im Allgemeinen nur zur Verfügung steht, wird die Bundesregierung danach bei der Entscheidung über den Einsatz der Streitkräfte im überregionalen Katastrophenfall nicht nur ausnahmsweise, sondern regelmäßig durch einen Einzelminister ersetzt. Dies macht deutlich, dass Maßnahmen der in § 14 Abs. 3 LuftSiG normierten Art auf dem in Art. 35 Abs. 3 Satz 1 GG vorgesehenen Weg in der Regel nicht zu bewältigen sein werden.
Darüber hinaus ist der wehrverfassungsrechtliche Rahmen des Art. 35 Abs.3 Satz 1 GG vor allem deshalb überschritten, weil auch im Fall des überregionalen Katastrophennotstands ein Einsatz der Streitkräfte mit typisch militärischen Waffen von Verfassungs wegen nicht erlaubt ist.

2. § 14 Abs. 3 LuftSiG ist auch mit dem Recht auf Leben (Art. 2 Abs. 2Satz 1 GG) in Verbindung mit der Menschenwürdegarantie (Art. 1 Abs. 1GG) nicht vereinbar, soweit von dem Einsatz der Waffengewalttat unbeteiligte Menschen an Bord des Luftfahrzeugs betroffen werden.
Die einem solchen Einsatz ausgesetzten Passagiere und Besatzungsmitglieder befinden sich in einer für sie ausweglosen Lage. Sie können ihre Lebensumstände nicht mehr unabhängig von anderen selbstbestimmt beeinflussen. Dies macht sie zum Objekt nicht nur derTäter. Auch der Staat, der in einer solchen Situation zur Abwehrmaßnahme des § 14 Abs. 3 LuftSiG greift, behandelt sie als bloße Objekte seiner Rettungsaktion zum Schutze anderer.
Eine solche Behandlung missachtet die Betroffenen als Subjekte mit Würde und unveräußerlichen Rechten. Sie werden dadurch, dass ihre Tötung als Mittel zur Rettung anderer benutzt wird, verdinglicht und zugleich entrechtlicht; indem über ihr Leben von Staats wegen einseitig verfügt wird, wird den als Opfern selbstschutzbedürftigen Flugzeuginsassen der Wert abgesprochen, der dem Menschen um seiner selbst willen zukommt.
Dies geschieht zudem unter Umständen, die nicht erwarten lassen, dass in dem Augenblick, in dem über die Durchführung einer Einsatzmaßnahme nach § 14 Abs. 3 LuftSiG zu entscheiden ist, die tatsächliche Lage immer voll überblickt und richtig eingeschätzt werden kann.

Unter der Geltung des Art. 1 Abs. 1 GG (Menschenwürdegarantie) ist es schlechterdings unvorstellbar, auf der Grundlage einer gesetzlichen Ermächtigung unschuldige Menschen, die sich in einer derart hilflosenLage befinden, vorsätzlich zu töten.

Die Annahme, dass derjenige, derals Besatzungsmitglied oder Passagier ein Luftfahrzeug besteigt, mutmaßlich in dessen Abschuss und damit in die eigene Tötung einwilligt, falls dieses in einen Luftzwischenfall verwickelt wird, ist eine lebensfremde Fiktion. Auch die Einschätzung, dass die Betroffenen ohnehin dem Tod geweiht seien, vermag der Tötung unschuldiger Menschen in der geschilderten Situation nicht den Charakter eines Verstoßes gegenden Würdeanspruch dieser Menschen zu nehmen.
Menschliches Leben und menschliche Würde genießen ohne Rücksicht auf die Dauer der physischen Existenz des einzelnen Menschen gleichen verfassungsrechtlichen Schutz.

Die teilweise vertretene Auffassung, dass die an Bord festgehaltenen Personen Teil einer Waffe geworden seien und sich als solcher behandeln lassen müssten, bringt geradezu unverhohlen zum Ausdruck, dass die Opfer eines solchen Vorgangs nicht mehr als Menschen wahrgenommen werden.
Der Gedanke, der Einzelne sei im Interesse des Staatsganzen notfalls verpflichtet, sein Leben aufzuopfern, wenn es nur auf diese Weise möglich ist, das rechtlich verfasste Gemeinwesen vor Angriffen zubewahren, die auf dessen Zusammenbruch und Zerstörung abzielen, führt ebenfalls zu keinem anderen Ergebnis. Denn im Anwendungsbereich des § 14Abs. 3 LuftSiG geht es nicht um die Abwehr von Angriffen, die auf die Beseitigung des Gemeinwesens und die Vernichtung der staatlichen Rechts- und Freiheitsordnung gerichtet sind.

Schließlich lässt sich § 14 Abs. 3 LuftSiG auch nicht mit der staatlichen Schutzpflicht zugunsten derjenigen rechtfertigen, gegen deren Leben das als Tatwaffe missbrauchte Luftfahrzeug eingesetzt werden soll.
Zur Erfüllung staatlicher Schutzpflichten dürfen nur solche Mittel verwendet werden, die mit der Verfassung in Einklang stehen. Daran fehlt es im vorliegenden Fall.

3. § 14 Abs. 3 LuftSiG ist dagegen mit Art. 2 Abs. 2 Satz 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG insoweit vereinbar, als sich die unmittelbare Einwirkung mit Waffengewalt gegen ein unbemanntes Luftfahrzeug oder ausschließlich gegen Personen richtet, die das Luftfahrzeug als Tatwaffe gegen das Leben von Menschen auf der Erde einsetzen wollen. Es entspricht der Subjektstellung des Angreifers, wenn ihm die Folgen seines selbstbestimmten Verhaltens persönlich zugerechnet werden und er für das von ihm in Gang gesetzte Geschehen in Verantwortung genommen wird. Auch der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ist gewahrt.

Das mit § 14 Abs. 3 LuftSiG verfolgte Ziel, Leben von Menschen zu retten, ist von solchem Gewicht, dass es den schwerwiegenden Eingriff in das Grundrecht auf Leben der Täter rechtfertigen kann.
Die Schwere des gegen sie gerichteten Grundrechtseingriffs wird zudem dadurch gemindert, dass die Täter selbst die Notwendigkeit des staatlichen Eingreifens herbeigeführt haben und dieses Eingreifen jederzeit dadurch wieder abwenden können, dass sie von der Verwirklichung ihres verbrecherischen Plans Abstand nehmen. Gleichwohl hat die Regelung auch insoweit keinen Bestand, da es dem Bund schon an der Gesetzgebungskompetenz mangelt.

25 Januar 2006

Fernwärme-Anschlusszwang

Kommunaler Anschluss- und Benutzungszwang (Fernwärme) aus Gründen des Klimaschutzes mit Bundes- und Europarecht vereinbar

Das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig hat heute entschieden, dass die Satzung einer Gemeinde über die Anordnung eines Anschluss- und Benutzungszwangs an die öffentliche Fernwärmeversorgung aus Gründen des Klimaschutzes mit Bundes- und Europarecht vereinbar ist.
Die beklagte Kommune betreibt seit mehreren Jahrzehnten in Teilen ihres Stadtgebietes eine öffentliche Fernwärmeversorgung, für die sie durch Satzung einen Anschluss- und Benutzungszwang angeordnet hat. Zweck der Satzung ist der Schutz der Luft und des Klimas als natürliche Grundlagen des Lebens. Zu diesem Ziel soll die Fernwärmeversorgung mittels Kraft-Wärme-Kopplung einen Beitrag leisten. Durch einen möglichst hohen Versorgungsgrad sollen bei globaler Betrachtung unter Einbeziehung ersparter Kraftwerksleistungen an anderer Stelle klimaschädliche Kohlendioxid-Emissionen im Vergleich zu einer Wärmeversorgung mit Einzelfeuerungsanlagen verringert werden.
Das Grundstück der Klägerin ist seit Jahren an die öffentliche Fernwärmeversorgung der Beklagten angeschlossen. 1997 beantragte sie die Befreiung hiervon, weil sie das darauf befindliche Bürogebäude mit einer kostengünstigeren Einzelbefeuerungsanlage beheizen wollte. Diesen Antrag lehnte die beklagte Kommune ab. Die Klage vor dem Verwaltungsgericht blieb ebenso erfolglos wie die gegen dessen Urteil eingelegte Berufung. Das Oberverwaltungsgericht Schleswig-Holstein hat in Auslegung des Landesrechts, an die das Bundesverwaltungsgericht gebunden ist, festgestellt, dass ein dringendes öffentliches Bedürfnis im Sinne des § 17 Abs. 2 der Gemeindeordnung S-H für die Anordnung des Anschluss- und Benutzungszwangs auch dann angenommen werden könne, wenn die Fernwärmeversorgung nur bei globaler Betrachtung unter Einbeziehung ersparter Kraftwerksleistungen an anderer Stelle zu einer beachtlichen Verringerung des Schadstoffausstoßes führe.
Die dagegen gerichtete Revision der Klägerin hat das Bundesverwaltungsgericht unter Bestätigung seiner bisherigen Rechtsprechung zurückgewiesen. Art. 28 Abs. 2 GG stehe der Auslegung des Landesrechts durch das Berufungsgericht nicht entgegen. Er schließe es nicht aus, dass der Landesgesetzgeber in Erfüllung seiner ihm obliegenden Verpflichtung, auf die Verwirklichung der Staatszielbestimmung des Art. 20a GG hinzuwirken, den Kommunen zusätzliche Befugnisse übertrage, die den Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen sichern sollen. Der hier angeordnete Anschluss- und Benutzungszwang verstoße auch nicht gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Insbesondere obliege es der Entscheidung des Gesetzgebers, ob die Fernwärmeversorgung mit Kraft-Wärme-Kopplung ein zum Klimaschutz geeignetes Mittel ist. Auch europäische Wettbewerbsregeln stünden der Anordnung eines kommunalen Anschluss- und Benutzungszwangs aus Gründen des Klimaschutzes nicht entgegen.

BVerwG 8 C 13.05 Urteil vom 25. Januar 2006