16 Mai 2006

BGH zu "Schrottimmobilien"

Bundesgerichtshof entscheidet zu kreditfinanzierten sogenannten „Schrottimmobilien“

Der u. a. für das Bankrecht zuständige XI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hatte darüber zu entscheiden, welche Rechte Verbrauchern zustehen, die ihren zur Finanzierung einer Eigentumswohnung geschlossenen Realkreditvertrag nach den Vorschriften des Haustürwiderrufsgesetzes widerrufen haben.

Die Kläger waren 1995 von einem Vermittler in ihrer Privatwohnung geworben worden, zum Zwecke der Steuerersparnis ohne nennenswertes Eigenkapital eine Eigentumswohnung zu kaufen. Sie schlossen deshalb zunächst einen entsprechenden notariellen Kaufvertrag ab und traten einer Mieteinnahmegesellschaft bei. Zur Finanzierung des Kaufpreises schloss sodann die beklagte Bausparkasse als Vertreterin einer Bank mit den Käufern einen Darlehensvertrag, wobei das den Käufern gewährte Vorausdarlehen mit Hilfe von zwei bei der Beklagten abgeschlossenen anzusparenden Bausparverträgen getilgt werden sollte. Eine Belehrung der Käufer und Darlehensnehmer nach dem Haustürwiderrufsgesetz erfolgte nicht. Die Käufer bestellten für die Bausparkasse eine Grundschuld an der gekauften Eigentumswohnung über die Darlehenssumme, übernahmen dafür die persönliche Haftung und unterwarfen sich der Zwangsvollstreckung in ihr gesamtes Vermögen. Nachdem die Kläger das aufgenommene Vorausdarlehen einige Jahre bedient hatten, widerriefen sie ihre Darlehensvertragserklärungen, da sie über ihr Widerrufsrecht nach dem Haustürwiderrufsgesetz nicht belehrt worden seien. Mit ihrer Klage wenden sie sich gegen die Zwangsvollstreckung der beklagten Bausparkasse, an die die darlehensgebende Bank ihre Ansprüche abgetreten hat. Sie machen insbesondere geltend, mit Rücksicht auf die unterbliebene Widerrufsbelehrung nach dem Haustürwiderrufsgesetz könnten sie die Rückzahlung des Darlehens verweigern und die Bausparkasse auf die gekaufte Eigentumswohnung verweisen. Außerdem behaupten sie, über die mit der Eigentumswohnung verbundenen Risiken, insbesondere die tatsächlich zu erzielende Miete und den Wert der Wohnung getäuscht bzw. nicht hinreichend aufgeklärt worden zu sein. Die Vorinstanzen haben die Klage abgewiesen. Das Berufungsgericht hat aber die Revision zugelassen.

Der XI. Zivilsenat hatte die Verhandlung zunächst zurückgestellt, um die Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften (EuGH) auf die Vorlage des Landgerichts Bochum (WM 2003, 1609) in einer Sache abzuwarten, an der die beklagte Bausparkasse beteiligt ist. Nachdem die Entscheidung des EuGH am 25. Oktober 2005 (WM 2005, 2079) ergangen ist, hatte der XI. Zivilsenat nun unter anderem zu entscheiden, welche Konsequenzen aus dem Urteil des EuGH zu ziehen sind. Er ist hierbei zu folgendem Ergebnis gelangt:

Es besteht auch im Hinblick auf die Europäische Haustürgeschäfterichtlinie kein Anlass, die ständige Rechtsprechung des Senats zu ändern, nach welcher der Verbraucher nach dem Widerruf des Darlehensvertrages gemäß § 3 Haustürwiderrufsgesetz (HWiG) zur sofortigen Rückzahlung der Darlehensvaluta zuzüglich marktüblicher Zinsen verpflichtet ist. Der EuGH hat ausdrücklich betont, dass dies auch in Fällen, in denen die Darlehensvaluta nach dem für die Kapitalanlage entwickelten Konzept unmittelbar an den Verkäufer zum Erwerb der Immobilie ausgezahlt wird, der Haustürgeschäfterichtlinie entspricht. Auch soweit der EuGH gemeint hat, Art. 4 der Haustürgeschäfterichtlinie verpflichte die Mitgliedstaaten, dafür zu sorgen, den Verbraucher vor den Risiken einer kreditfinanzierten Kapitalanlage zu schützen, die er im Falle einer Widerrufsbelehrung der kreditgebenden Bank hätte vermeiden können, bestehen weder Grund noch Möglichkeit zu einer anderslautenden richtlinienkonformen Auslegung des § 3 HWiG.

Die Frage, ob im Hinblick auf die genannte Vorgabe des EuGH aus der unterbliebenen Widerrufsbelehrung – wie in Literatur und Rechtsprechung zum Teil vertreten - ein Schadensersatzanspruch der Kläger folgen könnte, hat der Senat offen gelassen. Ein derartiger Schadensersatzanspruch wegen unterbliebener Widerrufsbelehrung scheidet hier nämlich schon wegen Fehlens der erforderlichen Kausalität aus, weil die Kläger den Kaufvertrag bereits geschlossen hatten, bevor es zum Abschluss des Darlehensvertrages kam. Die Erteilung einer Widerrufsbelehrung konnte sie daher vor den Risiken ihres Immobilienkaufs nicht mehr schützen.

Der XI. Zivilsenat hat aber im Interesse der Effektivierung des Verbraucherschutzes bei realkreditfinanzierten Wohnungskäufen und Immobilienfondsbeteiligungen, die nicht als verbundene Geschäfte behandelt werden können, und um dem in den Entscheidungen des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften vom 25. Oktober 2005 zum Ausdruck kommenden Gedanken des Verbraucherschutzes vor Risiken von Kapitalanlagemodellen im nationalen Recht Rechnung zu tragen, seine Rechtsprechung zum Bestehen von eigenen Aufklärungspflichten der kreditgebenden Bank in diesen Fällen ergänzt. Danach können sich die Anleger in Fällen eines institutionalisierten Zusammenwirkens der kreditgebenden Bank mit dem Verkäufer oder Vertreiber des finanzierten Objekts unter erleichterten Voraussetzungen mit Erfolg auf einen die Aufklärungspflicht auslösenden konkreten Wissensvorsprung der finanzierenden Bank im Zusammenhang mit einer arglistigen Täuschung des Anlegers durch unrichtige Angaben der Vermittler, Verkäufer oder Fondsinitiatoren bzw. des Fondsprospekts über das Anlageobjekt berufen. Die eine eigene Aufklärungspflicht auslösende Kenntnis der Bank von einer solchen arglistigen Täuschung wird widerleglich vermutet, wenn Verkäufer oder Fondsinitiatoren, die von ihnen beauftragten Vermittler und die finanzierende Bank in institutionalisierter Art und Weise zusammenwirken, auch die Finanzierung der Kapitalanlage vom Verkäufer oder Vermittler angeboten wurde und die Unrichtigkeit der Angaben des Verkäufers, Fondsinitiators oder der für sie tätigen Vermittler bzw. des Verkaufs- oder Fondsprospekts nach den Umständen des Falles evident ist, so dass sich aufdrängt, die Bank habe sich der Kenntnis der arglistigen Täuschung geradezu verschlossen.

Der Bundesgerichtshof hat das Berufungsurteil aufgehoben und die Sache an das Berufungsgericht zurückverwiesen, damit dieses Feststellungen zu der von den Klägern behaupteten arglistigen Täuschung und der Frage eines institutionalisierten Zusammenwirkens der beklagten Bausparkasse mit den Vermittlern treffen kann.

Urteil vom 16. Mai 2006 – XI ZR 6/04
OLG Hamm, Urteil vom 1. Dezember 2003 – 5 U 125/03
LG Dortmund, Urteil vom 4. April 2003 – 6 O 504/02
Karlsruhe, den 16. Mai 2006

31 März 2006

BVerfG zu Todesurteilen des NS-Regimes

Todesurteile von 1944 gegen zwei Jugendliche kraft Gesetzes aufgehoben
- daher kein Raum für Wiederaufnahmeverfahren


Am 13. September 1944 wurden die beiden damals erst 14-jährigen
Jugendlichen Karl S. und Johann H. in Aachen zusammen mit einer Gruppe
von Erwachsenen durch Wehrmachtsangehörige unter dem Vorwurf des
Plünderns festgenommen. Ein sogleich eingesetztes Standgericht
verurteilte die beiden Jungen zum Tode. Das Urteil wurde unmittelbar
danach durch Erschießen vollstreckt. Den Jungen wurde keine Gelegenheit
gegeben, Rechtsmittel einzulegen. Im Jahre 2003 wandten sich Angehörige
(Beschwerdeführer) der beiden Jugendlichen mit „Anträgen auf
Rehabilitierung“ an die Staatsanwaltschaft Aachen. Diese erteilte ihnen
die Bescheinigung, dass die Verurteilung aufgrund des Gesetzes zur
Aufhebung nationalsozialistischer Unrechtsurteile in der
Strafrechtspflege (NS-Aufhebungsgesetz) aufgehoben sei. Ein daraufhin
gestellter Antrag der Angehörigen auf Wiederaufnahme des
standgerichtlichen Verfahrens mit dem Ziel, die beiden hingerichteten
Jungen vom Vorwurf der Plünderung freizusprechen, wurde in letzter
Instanz vom Oberlandesgericht Köln als unzulässig verworfen. Ihre
hiergegen gerichtete Verfassungsbeschwerde blieb ohne Erfolg. Die 2.
Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts führt aus, dass
das Oberlandesgericht in verfassungsrechtlich nicht zu beanstandender
Weise davon ausgegangen ist, dass den Beschwerdeführern das
Wiederaufnahmeverfahren nicht mehr eröffnet ist, da die Urteile bereits
nach dem Gesetz zur Aufhebung nationalsozialistischer Unrechtsurteile in
der Strafrechtspflege aufgehoben sind.

Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zu Grunde:
Den Beschwerdeführern ist das Wiederaufnahmeverfahren nicht mehr
eröffnet, da es infolge der Aufhebung der Urteile nach dem NS-
Aufhebungsgesetz an einem „Anfechtungsgegenstand“ für ein
Wiederaufnahmeverfahren fehlt. Gegen die Verfassungsmäßigkeit des NS-
Aufhebungsgesetzes bestehen keine Bedenken, insbesondere ist es
verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, dass sich der Gesetzgeber in
rehabilitierungswürdigen Fällen der vorliegenden Art für eine pauschale
Aufhebung statt für eine Wiederaufnahme der einzelnen Verfahren
entschieden hat.

Das Wiederaufnahmeverfahren geht von im Grundsatz rechtsstaatlichen
Verhältnissen aus, unter denen im Einzelfall fehlerhafte
Verfahrensergebnisse auch nach Rechtskrafteintritt korrigiert werden
können. In Fällen der vorliegenden Art geht es dagegen um ein
systembedingtes reines Willkürverfahren, das aber bei Anwendung der
Vorschriften über die Wiederaufnahme des Verfahrens als Grundlage für
die Durchführung einer nachträglichen Beweisaufnahme dienen würde. Damit
käme diesem Verfahren ein Stellenwert zu, den es nicht verdient. Darüber
hinaus ist das herkömmliche Wiederaufnahmeverfahren zumindest
unzulänglich, die sich aus der Existenz nationalsozialistischer
Unrechtsurteile stellenden Probleme zu lösen. So müsste ein
Wiederaufnahmegrund vorliegen, was jedenfalls in Bezug auf die
Beibringung neuer Tatsachen oder Beweismittel allein schon wegen der
lange zurückliegenden Zeit unwahrscheinlich ist. Darüber hinaus sind die
Fährnisse eines Wiederaufnahmeverfahrens zur berücksichtigen. Wenn etwa
das von den jeweiligen Antragstellern beigebrachte neue Beweismittel
nicht geeignet ist, einen Freispruch herbeizuführen, etwa weil ein Zeuge
sich doch nicht mehr genau erinnern kann, wäre der Antrag auf
Wiederaufnahme als unbegründet zu verwerfen oder gar das frühere Urteil
aufrechtzuerhalten. Zudem ist zu bedenken, dass eine Aufrollung des
Einzelfalles häufig dadurch erschwert wird, dass die Verfahrensakten
absichtlich oder aufgrund von Kriegseinwirkungen vernichtet worden sind.
Bei der Frage, wie eine umfassende Rehabilitation erreicht werden kann,
ist schließlich auch die hohe Zahl der bis 1998 noch in Kraft gewesenen
NS-Unrechtsurteile, die auf mehrere Hunderttausende geschätzt wurde, zu
berücksichtigen. Allein dies macht deutlich, dass durch eine
detaillierte Neubeurteilung jedes einzelnen Sachverhaltes das
gesetzgeberische Ziel nicht zu erreichen war. Angesichts dieser Probleme
hat der Gesetzgeber die Grenzen seiner Gestaltungsmacht nicht
überschritten, wenn er statt einer gerichtlichen Aufhebung der
Einzelfälle eine gesetzliche Aufhebung der Entscheidungen anordnet.
Hierdurch wird dem Rehabilitierungsinteresse der Betroffenen aus
verfassungsrechtlicher Sicht hinreichend Genüge getan.

Pressemitteilung Nr. 26/2006 vom 31. März 2006

Zum Beschluss vom 8. März 2006 – 2 BvR 486/05 –

09 März 2006

BVerfG zur unentgeltlichen Rechtsberatung

Unentgeltliche Rechtsberatung durch berufserfahrenen Juristen

Die Verfassungsbeschwerde eines pensionierten Richters, der schon seit
langem um die Anerkennung der „altruistischen Rechtsberatung“ kämpft,
gegen seine Nichtzulassung als Wahlverteidiger in einem Strafverfahren
war erfolgreich. Das Landgericht und das Oberlandesgericht hatten die
Zulassung als Verteidiger versagt, weil der Beschwerdeführer, der
bereits zweimal wegen unerlaubter geschäftsmäßiger Besorgung fremder
Rechtsangelegenheiten verurteilt worden war, die nach Art. 1 § 1
Rechtsberatungsgesetz erforderliche Erlaubnis nicht besitze. Eine
behördliche Erlaubnis sei auch für die unentgeltliche, rein
altruistische Rechtsberatung notwendig, sofern sie geschäftsmäßig und
nicht nur einmalig betrieben werde. Weil die Tätigkeit des
Beschwerdeführers einen erneuten Verstoß gegen das Rechtsberatungsgesetz
bedeute, komme eine Zulassung als Wahlverteidiger nicht in Betracht.

Die 1. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts hob die
angegriffene Entscheidung des Oberlandesgerichts auf. Die Nichtzulassung
des Beschwerdeführers als Wahlverteidiger im Strafverfahren stelle einen
nicht gerechtfertigten Eingriff in seine allgemeine Handlungsfreiheit
(Art. 2 Abs. 1 GG) dar. Die Sache wurde zu neuer Entscheidung an das
Oberlandesgericht zurückverwiesen.

Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zu Grunde:
Das Bundesverfassungsgericht hatte bereits in seiner Entscheidung vom
29. Juli 2004 (vgl. Pressemitteilung Nr. 76/2004 vom 5. August 2004) das
Verbot der unentgeltlichen Rechtsberatung durch einen Volljuristen in
Frage gestellt. Der Begriff der Geschäftsmäßigkeit in Art. 1 § 1
Rechtsberatungsgesetz könne unter Abwägung der Schutzzwecke des
Rechtsberatungsgesetzes einerseits und des Grundrechts der allgemeinen
Handlungsfreiheit andererseits eine Auslegung erfordern, die die
unentgeltliche Rechtsbesorgung durch einen berufserfahrenen Juristen
nicht erfasst.

Nach den Grundsätzen dieser Entscheidung kann Art. 1 § 1
Rechtsberatungsgesetz auf die von dem Beschwerdeführer ausgeübte
unentgeltliche Rechtsberatung keine Anwendung finden, wenn bei der
Auslegung des Begriffs der „Geschäftsmäßigkeit“ die grundrechtlich
garantierte Handlungsfreiheit des Beschwerdeführers hinreichende
Beachtung findet. Ein vermeintlicher Verstoß gegen Art. 1 § 1
Rechtsberatungsgesetz kann damit auch nicht als Begründung zur Versagung
einer Genehmigung als Wahlverteidiger im Strafverfahren herangezogen
werden. Indem das Oberlandesgericht die Reichweite des Grundrechts der
allgemeinen Handlungsfreiheit nicht erkannt und einseitig die auf einer
überholten Auslegung des Rechtsberatungsgesetzes gestützten Bedürfnisse
der Rechtspflege in die Abwägung eingestellt hat, liegt ein
schwerwiegender Fehler bei der Ermessensentscheidung über die Bestellung
als Wahlverteidiger vor.

Pressemitteilung Nr. 17/2006 vom 9. März 2006

Zum Beschluss vom 16. Februar 2006 – 2 BvR 951/04 und 2 BvR 1087/04 –

08 März 2006

BGH: MietR-Betriebskosten

Der Beklagte ist Mieter einer nicht preisgebundenen Wohnung der Klägerin in Berlin. Mit ihrer Klage hat die Klägerin unter anderem Zahlung rückständiger Mieten sowie Nachforderungen aus Betriebskostenabrechnungen verlangt. Der Beklagte hat beanstandet, dass die Klägerin die im selben Gebäude befindlichen Gewerbeflächen und die darauf entfallenden Kosten in den Betriebskostenabrechnungen nicht vorweg abgezogen und ihm darüber hinaus trotz eines entsprechenden Verlangens keine Fotokopien zu den einzelnen Abrechnungsbelegen überlassen habe. Im Übrigen hat der Beklagte wegen der von ihm beanstandeten Abrechnungsweise die Aufrechnung erklärt und Widerklage erhoben. Das Berufungsgericht hat der Klage im Wesentlichen stattgegeben und die Widerklage insgesamt abgewiesen.

Der unter anderem für das Wohnraummietrecht zuständige VIII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat die Revision des Beklagten zurückgewiesen.

Der Bundesgerichtshof hat ausgeführt, dass bei der Abrechnung des Vermieters von preisfreiem Wohnraum über Betriebskosten soweit die Parteien nichts anderes vereinbart haben ein Vorwegabzug der Kosten, die auf die in einem gemischt genutzten Gebäude befindlichen Gewerbeflächen entfallen, jedenfalls dann nicht geboten ist, wenn sie hinsichtlich aller oder einzelner Betriebskostenarten nicht zu einer ins Gewicht fallenden Mehrbelastung der Wohnraummieter führen. Der Vorwegabzug ist nur für bestimmte Mietverhältnisse im öffentlich geförderten Wohnungsbau gesetzlich vorgeschrieben (§ 20 Abs. 2 Satz 2 der Neubaumietenverordnung). Er soll verhindern, dass die Wohnungsmieter mit Kosten belastet werden, die allein oder in höherem Maße aufgrund einer gewerblichen Nutzung in gemischt genutzten Objekten entstehen. Dem Wohnungsmieter entsteht jedoch kein Nachteil, wenn er durch die Umlage der auf das Gebäude entfallenden Gesamtkosten nach einem einheitlich für alle Mieter geltenden Maßstab nicht schlechter gestellt wird als im Falle einer Voraufteilung zwischen Wohn- und Gewerbeflächen. Hierdurch wird auch dem Interesse beider Mietvertragsparteien an einer Vereinfachung der Abrechnung Rechnung getragen. Nach diesen Grundsätzen waren die Betriebskostenabrechnungen der Klägerin ordnungsgemäß. Das Berufungsgericht hatte angenommen, die in dem Gebäude befindlichen fünf Gewerbebetriebe darunter ein Job-Center und ein Internet-Café hätten keine erhebliche Mehrbelastung hinsichtlich der einzelnen Betriebskostenarten verursacht. Diese Würdigung des Berufungsgerichts, die vom Bundesgerichtshof nur auf das Vorliegen von Rechtsfehlern zu überprüfen ist, war aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden.

Des Weiteren hat der Bundesgerichtshof entschieden, dass der Mieter preisfreien Wohnraums grundsätzlich keinen Anspruch gegen den Vermieter auf Überlassung von Fotokopien der Abrechnungsbelege zur Betriebskostenabrechnung hat. Einen solchen Anspruch des Mieters sieht das Gesetz für den Bereich des preisfreien Wohnraumes nicht vor. Einer entsprechenden Anwendung des § 29 Abs. 2 Satz 1 der Neubaumietenverordnung, der für bestimmte preisgebundene Wohnraummietverhältnisse dem Mieter einen Anspruch auf Überlassung von Ablichtungen gegen Kostenerstattung einräumt, steht entgegen, dass eine dem Willen des Gesetzgebers zuwiderlaufende Regelungslücke des Gesetzes nicht vorliegt. Auch ein Anspruch des Mieters nach den Grundsätzen von Treu und Glauben (§ 242 BGB) auf Übersendung von Fotokopien war im vorliegenden Fall nicht gegeben. Der Vermieter kann ein berechtigtes Interesse daran haben, den Mieter auf die Einsichtnahme in die Rechnungsbelege zu verweisen die dessen Interesse an einer Überprüfung der Abrechnung in der Regel hinreichend Rechnung trägt , um den durch die Anfertigung von Fotokopien entstehenden zusätzlichen Aufwand zu vermeiden und dem Mieter mögliche Unklarheiten im Gespräch sofort zu erläutern. Hierdurch kann Fehlverständnissen der Abrechnung und zeitlichen Verzögerungen durch ein Verlangen des Mieters nach Übersendung weiterer Kopien von Rechnungsbelegen wie es auch der Beklagte, dem die Klägerin während des Rechtsstreits rund 300 Fotokopien von Abrechnungsbelegen übermittelt hatte, gestellt hatte vorgebeugt werden. Dieses Interesse des Vermieters würde nicht hinreichend berücksichtigt, wenn er dem Mieter stets auch gegen Kostenerstattung auf dessen Anforderung hin Belegkopien zu überlassen hätte.

Ein Anspruch des Mieters auf Übermittlung von Fotokopien kommt nach Treu und Glauben (§ 242 BGB) allerdings ausnahmsweise dann in Betracht, wenn ihm die Einsichtnahme in die Abrechnungsunterlagen in den Räumen des Vermieters nicht zugemutet werden kann. So lag der Fall hier jedoch nicht. Dass dem Beklagten die Einsichtnahme in den Geschäftsräumen der ebenfalls in Berlin gelegenen Hausverwaltung nicht unzumutbar war, hatte das Berufungsgericht mit rechtsfehlerfreien und von der Revision nicht beanstandeten Erwägungen angenommen.

Urteil vom 8. März 2006 VIII ZR 78/05

AG Berlin-Mitte 2 C 144/03 ./. LG Berlin 67 S 99/04

Karlsruhe, den 8. März 2006

Pressestelle des Bundesgerichtshof

07 März 2006

BVerfG zum Rückkauf von Kapitallebensversicherung

Zur Berechnung des Rückkaufswertes einer kapitalbildenden Lebensversicherung bei vorzeitiger Kündigung

Die Verfassungsbeschwerde eines Versicherungsnehmers, der im Jahr 1992
seine kapitalbildende Lebensversicherung vorzeitig gekündigt hatte, war
jedenfalls im Kern erfolgreich. Dieser hatte sich gegen die im Wege der
„Zillmerung“ erfolgte Berechnung des Rückkaufswertes seiner
Lebensversicherung gewandt. Lebensversicherungen mit „gezillmerter“
Prämie weisen die Grundstruktur auf, dass dem Versicherungsnehmer die
Vertragsabschlusskosten (insbesondere Vermittlungsprovision) nicht
gesondert in Rechnung gestellt werden, sondern mit der insgesamt zu
zahlenden Prämie verrechnet werden. Die Prämienhöhe wird so berechnet,
dass sie über die Gesamtlaufzeit des Vertrags gleich bleibt und dass
Prämienzahlungen zunächst dazu verwendet werden, die Abschlusskosten zu
decken. Dies führt dazu, dass der Rückkaufswert des
Lebensversicherungsvertrags in den ersten Jahren sehr niedrig ist oder
sogar entfällt. Die Rechtslage zur Zeit des hier streitgegenständlichen
Vertragsschlusses war zudem dadurch gekennzeichnet, dass die genaue
Berechnung der Zillmerung in dem den Versicherungsnehmern nicht
bekannten von der Aufsichtsbehörde genehmigten Geschäftsplan des
Versicherungsunternehmens dargestellt worden war. Für nach dem 28. Juli
1994 abgeschlossene Lebensversicherungsverträge gilt eine veränderte
Rechtslage. Allerdings hat die Neuregelung des Versicherungsrechts im
Jahr 1994 die Anwendbarkeit der vorliegend angegriffenen Berechnung des
Rückkaufswertes nach der Methode Zillmer nicht beseitigt.

Die 1. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts stellte
fest, dass der verfassungsrechtliche Schutzauftrag Vorkehrungen dafür
erfordere, dass die Versicherungsnehmer einer kapitalbildenden
Lebensversicherung erkennen können, in welcher Höhe Abschlusskosten mit
der Prämie verrechnet werden dürfen und dass sie bei einer vorzeitigen
Beendigung des Lebensversicherungsverhältnisses eine Rückvergütung
erhalten, deren Wert auch unter Berücksichtigung in Rechnung gestellter
Abschlusskosten in einem angemessenen Verhältnis zu den bis zu diesem
Zeitpunkt gezahlten Versicherungsprämien steht. Die Kammer hat die
Verfassungsbeschwerde gleichwohl nicht zur Entscheidung angenommen, da
ihr aufgrund der vorangegangenen Urteile des Ersten Senats des
Bundesverfassungsgerichts vom 26. Juli 2005 (Pressemitteilungen Nr. 66
und 67/2005 vom 26. Juli 2005) keine grundsätzliche Bedeutung mehr
zukomme.

Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zu Grunde:
1. Das Bundesverfassungsgericht hat in seinen Urteilen vom 26. Juli 2005
verfassungsrechtliche Schutzdefizite im Recht der kapitalbildenden
Lebensversicherung mit Überschussbeteiligung festgestellt.
Entsprechende Schutzdefizite sind auch bei der Verrechnung von
Abschlusskosten für den Fall vorzeitiger Vertragsauslösung nach dem
seinerzeit maßgeblichen Recht festzustellen:

Die in Art. 2 Abs. 1 und Art. 14 Abs. 1 GG enthaltenen
objektivrechtlichen Schutzaufträge erfordern Vorkehrungen dafür, dass
die Versicherungsnehmer über effektive Möglichkeiten zur Durchsetzung
ihrer Interessen verfügen. Bleiben den Versicherungsnehmern Art und
Höhe der zu verrechnenden Abschlusskosten und der Verrechnungsmodus
unbekannt, ist ihnen eine eigenbestimmte Entscheidung darüber
unmöglich, ob sie einen Vertrag zu den konkreten Konditionen
abschließen wollen. Darf – wie es der seinerzeitigen Rechtslage
entsprach – für die Berechnung auf den den Versicherungsnehmern nicht
bekannten Geschäftsplan verwiesen werden, fehlt es auch insofern an
der für eine autonome Entscheidung unabdingbaren Transparenz.

Darüber hinaus muss gesichert werden, dass die Versicherungsnehmer
bei einer vorzeitigen Beendigung des Lebensversicherungsverhältnisses
eine Rückvergütung erhalten, deren Wert auch unter Berücksichtigung
in Rechnung gestellter Abschlusskosten sowie des Risiko- und
Verwaltungskostenanteils in einem angemessenen Verhältnis zu den bis
zu diesem Zeitpunkt gezahlten Versicherungsprämien steht. Die mit dem
Abschluss eines Versicherungsvertrages verfolgte Zielsetzung der
Vermögensbildung darf nicht dadurch teilweise vereitelt werden, dass
hohe Abschlusskosten, deren konkrete Berechnung zudem den
Versicherungsnehmern nicht bekannt ist und deren Höhe von ihnen auch
nicht beeinflusst werden kann, in den ersten Jahren mit der Prämie so
verrechnet werden können, dass der Rückkaufswert in dieser Zeit
unverhältnismäßig gering ist oder gar gegen Null tendiert.

Fehlen Möglichkeiten der Versicherungsnehmer, ihre Belange insoweit
selbst effektiv zu verfolgen, trifft den Gesetzgeber ein
verfassungsrechtlicher Schutzauftrag. Diesem Auftrag ist er nicht in
ausreichendem Maße nachgekommen. Weder zivilrechtlich noch mit Hilfe
des Aufsichtsrechts konnte der Versicherungsnehmer nach dem für den
Versicherungsvertrag des Beschwerdeführers maßgebenden Recht eine
angemessene Berücksichtigung seiner Belange erwirken. Die
Zivilgerichte verwiesen auf die öffentlichrechtliche Genehmigung des
Geschäftsplans und nahmen insoweit eine eigene inhaltliche Prüfung
nicht vor. Eine Kompensation dieses Rechtsschutzdefizits durch das
Versicherungsaufsichtsrecht fand nicht statt. Die Aufsichtsbehörde
beschränkte sich grundsätzlich auf eine – nicht auf das einzelne
Versicherungsvertragsverhältnis bezogene – Missbrauchsaufsicht.

2. Für die aktuell geltende Rechtslage hat sich allerdings dadurch eine
Änderung ergeben, dass der Bundesgerichtshof mit Urteil vom 12.
Oktober 2005 im Wege der ergänzenden Vertragsauslegung Grenzen der
Verrechung der Abschlusskosten bei vorzeitiger Vertragsauflösung
festgelegt hat. Er hat damit eine zivilrechtliche Lösung
bereitgestellt, die auch Rechtsschutz im Rahmen der
Zivilgerichtsbarkeit ermöglicht. Nach dieser Rechtslage verbleibt es
zwar grundsätzlich bei der Verrechnung der geleisteten einmaligen
Abschlusskosten nach dem Zillmerungsverfahren. Für den Fall der
vorzeitigen Beendigung der Beitragszahlung ist jedenfalls die
versprochene Leistung geschuldet; der vereinbarte Beitrag der
beitragsfreien Versicherungssumme und des Rückkaufswertes darf aber
einen vom Bundesgerichtshof näher umschriebenen Mindestbetrag nicht
unterschreiten.

Aufgrund dieser Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs sowie aufgrund
der Urteile des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 26.
Juli 2005 haben die in der Verfassungsbeschwerde aufgeworfenen
Rechtsfragen keine grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung
mehr. Das Bundesverfassungsgericht hatte dem Gesetzgeber aufgegeben,
bis zum 31. Dezember 2007 eine mit den grundrechtlichen Vorgaben
vereinbare Regelung des Rechts der Lebensversicherung zu treffen. Es
ist zu erwarten, dass die vom Gesetzgeber zu schaffende Lösung auch
Sicherungen für größere Transparenz enthalten und Auswirkungen auf
die Be- und Verrechnung von Abschlusskosten haben wird.

Pressemitteilung Nr. 16/2006 vom 7. März 2006

Zum Beschluss vom 15. Februar 2006 – 1 BvR 1317/96 –

03 März 2006

BVerfG zu NS-Verbrechen

Keine Schadensersatzpflicht der Bundesrepublik Deutschland gegenüber Geschädigten des SS-Massakers in Distomo

Die Verfassungsbeschwerde der vier Beschwerdeführer betrifft die Frage
der Schadensersatz- und Entschädigungspflicht der Bundesrepublik
Deutschland für während der Besetzung Griechenlands im Zweiten Weltkrieg
von Angehörigen der deutschen Streitkräfte verübte
„Vergeltungsmaßnahmen“. Die 1. Kammer des Zweiten Senats des
Bundesverfassungsgerichts nahm die Verfassungsbeschwerde, die sich gegen
die eine Ersatzpflicht ablehnenden gerichtlichen Entscheidungen wandte,
nicht zur Entscheidung an.

Sachverhalt:
Die Beschwerdeführer sind griechische Staatsangehörige. Ihre Eltern
wurden am 10. Juni 1944 im Zuge einer an den Einwohnern der griechischen
Ortschaft Distomo verübten „Vergeltungsaktion“ von Angehörigen einer in
die deutschen Besatzungstruppen eingegliederten SS-Einheit erschossen,
nachdem es zuvor zu einer bewaffneten Auseinandersetzung mit Partisanen
gekommen war. Insgesamt töteten die Soldaten zwischen 200 und 300 der –
an den Partisanenkämpfen unbeteiligten – Dorfbewohner, darunter vor
allem alte Menschen, Frauen und Kinder. Das Dorf wurde niedergebrannt.
Die damals minderjährigen Beschwerdeführer erlitten in Folge des
Verlustes ihrer Eltern – von materiellen Schäden abgesehen – psychische
Schäden sowie Nachteile in ihrer beruflichen Ausbildung und ihrem
Fortkommen. Eine gegen die Bundesrepublik Deutschland im September 1995
eingereichte Klage der Beschwerdeführer auf Schadensersatz blieb vor dem
Landgericht, dem Oberlandesgericht und dem Bundesgerichtshof erfolglos.
Demgegenüber hatte in einem in Griechenland geführten Parallelverfahren,
an dem unter anderem die Beschwerdeführer beteiligt waren, das
zuständige Landgericht Livadeia im Oktober 1997 entschieden, dass die
wegen desselben Sachverhalts geltend gemachten Schadensersatzansprüche
begründet seien.

Dem Nichtannahmebeschluss liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen
zu Grunde:

1. Der Bundesgerichtshof hat eine Bindung an das Urteil des griechischen
Landgerichts Livadeia zu Recht abgelehnt. Nach geltendem Völkerrecht
kann ein Staat Befreiung von der Gerichtsbarkeit eines anderen
Staates beanspruchen, soweit es – wie hier – um die Beurteilung
seines hoheitlichen Verhaltens geht.

2. Art. 14 Abs. 1 GG (Eigentumsgarantie) ist nicht verletzt. Die
Beschwerdeführer haben weder völkerrechtliche noch amtshaftungs- oder
aufopferungsrechtliche Ersatz- und Entschädigungsansprüche.

Art. 3 des IV. Haager Abkommens, wonach eine Kriegspartei im Falle
eines Verstoßes gegen die Haager Landkriegsordnung grundsätzlich zum
Schadensersatz verpflichtet ist, begründet keinen individuellen
Entschädigungsanspruch. Er regelt einen sekundären
Schadensersatzanspruch, der nur in dem Völkerrechtsverhältnis
zwischen den betroffenen Staaten besteht.

Den Beschwerdeführern steht auch kein Anspruch aus dem Gesichtspunkt
der Amtshaftung zu. Im vorliegenden Fall gelangt der
Haftungsausschluss in § 7 RBHG a. F. zur Anwendung, wonach
Angehörigen eines ausländischen Staates ein Amtshaftungsanspruch
gegen die Bundesrepublik Deutschland nur dann zustand, wenn durch
Gesetzgebung des ausländischen Staates oder durch Staatsvertrag die
Gegenseitigkeit verbürgt war. Eine solche Verbürgung seitens
Griechenlands gegenüber Deutschland lag im Zeitpunkt des Geschehens
aber nicht vor. Der Haftungsausschluss ist anwendbar, weil das
Geschehen in Distomo als formell dem Kriegsvölkerrecht unterliegender
Sachverhalt zu qualifizieren ist, dem kein spezifisch
nationalsozialistisches Unrecht eigen und der deshalb nicht dem
getrennt geregelten Bereich der Wiedergutmachung von NS-Unrecht
zuzuordnen ist.

Die Ablehnung von Entschädigungsansprüchen aus enteignungsgleichem
Eingriff und Aufopferung ist ebenfalls verfassungsrechtlich
unbedenklich. Diese Anspruchsgrundlage, die für Sachverhalte des
alltäglichen Verwaltungshandelns entwickelt wurde, kann nach der
maßgeblichen deutschen Rechtsordnung auf Kriegsschäden nicht
angewendet werden.

3. Auch der allgemeine Gleichheitssatz in seiner Bedeutung als
Willkürverbot ist nicht verletzt. Dem Gesetzgeber ist es nicht
verwehrt, zwischen einem allgemeinen, wenn auch harten und mit
Verstößen gegen das Völkerrecht einhergehenden Kriegsschicksal
einerseits und Opfern von in besonderer Weise ideologisch motivierten
Verfolgungsmaßnahmen des nationalsozialistischen Unrechtsregimes
andererseits zu unterscheiden. Des weiteren hat sich die
Bundesrepublik Deutschland durch Reparationsleistungen und
Entschädigungszahlungen auf der Grundlage bilateraler Abkommen ihrer
völkerrechtlichen Verantwortung gestellt. Bei aller prinzipiellen
Unzulänglichkeit der Wiedergutmachung menschlichen Leids durch
finanzielle Mittel ist dadurch – und mittels der internationalen und
europäischen Zusammenarbeit – versucht worden, einen Zustand näher am
Völkerrecht herzustellen.

Pressemitteilung Nr. 14/2006 vom 3. März 2006

Zum Beschluss vom 15. Februar 2006 – 2 BvR 1476/03 –

15 Februar 2006

BVerfG: Kein Abschuss von Passagier-Flugzeugen

Bundesverfassungsgericht - Pressestelle -Pressemitteilung Nr. 11/2006 vom 15. Februar 2006Zum Urteil vom 15. Februar 2006 – 1 BvR 357/05 –

Abschussermächtigung im Luftsicherheitsgesetz nichtig

§ 14 Abs. 3 Luftsicherheitsgesetz (LuftSiG), der die Streitkräfte ermächtigt, Luftfahrzeuge, die als Tatwaffe gegen das Leben von Menschen eingesetzt werden sollen, abzuschießen, ist mit dem Grundgesetz unvereinbar und nichtig.
Dies entschied der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts mit Urteil vom 15. Februar 2006. Für die Regelung fehle es bereits an einer Gesetzgebungsbefugnis des Bundes.

Art. 35 Abs. 2 Satz 2 und Abs. 3 Satz 1 GG, der den Einsatz der Streitkräfte bei der Bekämpfung von Naturkatastrophen oder besonders schweren Unglücksfällen regelt, erlaube dem Bund nicht einen Einsatz der Streitkräfte mit spezifisch militärischen Waffen.
Darüber hinaus sei §14 Abs. 3 LuftSiG mit dem Grundrecht auf Leben und mit der Menschenwürdegarantie des Grundgesetzes nicht vereinbar, soweit von dem Einsatz der Waffengewalt tatunbeteiligte Menschen an Bord des Luftfahrzeugs betroffen werden. Diese würden dadurch, dass der Staat ihre Tötung als Mittel zur Rettung anderer benutzt, als bloße Objekte behandelt; ihnen werde dadurch der Wert abgesprochen, der dem Menschen um seiner selbst willen zukommt.
Damit war die Verfassungsbeschwerde von vier Rechtsanwälten, einem Patentanwalt und einem Flugkapitän, die sich unmittelbar gegen § 14 Abs.3 LuftSiG gewandt hatten, erfolgreich (zum Sachverhalt vgl.Pressemitteilung Nr. 101/2005 vom 17. Oktober 2005).

Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zu Grunde:

1. Dem Bund fehlt die Gesetzgebungsbefugnis zum Erlass der Regelung des § 14 Abs. 3 LuftSiG. Zwar hat er unmittelbar aus Art. 35 Abs. 2 Satz 2 und Abs. 3 Satz 1 GG das Recht zur Gesetzgebung für Regelungen, die das Nähere über den Einsatz der Streitkräfte bei der Bekämpfung von Naturkatastrophen und besonders schweren Unglücksfällen nach diesen Vorschriften und über das Zusammenwirken mit den beteiligten Ländern bestimmen. Allerdings steht die in § 14 Abs. 3 LuftSiG enthaltene Ermächtigung der Streitkräfte zur unmittelbaren Einwirkung auf ein Luftfahrzeug mit Waffengewalt mit Art. 35 Abs. 2 Satz 2 und Abs. 3 GG nicht im Einklang.

a) Die Unvereinbarkeit von § 14 Abs. 3 LuftSiG mit Art. 35 Abs. 2 Satz 2GG (regionaler Katastrophennotstand) ergibt sich allerdings nicht schon daraus, dass die Einsatzmaßnahme zu einem Zeitpunkt angeordnet und durchgeführt werden soll, zu dem sich zwar bereits ein erheblicher Luftzwischenfall ereignet hat (Entführung eines Flugzeugs), der besonders schwere Unglückfall selbst (beabsichtigter Flugzeugabsturz) aber noch nicht eingetreten ist. Denn der Begriff des besonders schweren Unglücksfalls im Sinne des Art. 35 Abs. 2 Satz 2 GG umfasst auch Vorgänge, die den Eintritt einer Katastrophe mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit erwarten lassen.
Jedoch wahrt die Einsatzmaßnahme der unmittelbaren Einwirkung auf ein Luftfahrzeug mit Waffengewalt deshalb nicht den Rahmen des Art. 35 Abs. 2 Satz 2 GG, weil diese Norm einen Kampfeinsatz der Streitkräfte mit spezifisch militärischen Waffen bei der Bekämpfung von Naturkatastrophen und besonders schweren Unglücksfällen nicht erlaubt.

Die „Hilfe“, von derArt. 35 Abs. 2 Satz 2 GG spricht, wird den Ländern gewährt, damit diese die ihnen im Rahmen der Gefahrenabwehr obliegende Aufgabe der Bewältigung von Naturkatastrophen und besonders schweren Unglückfällen wirksam erfüllen können.

Die Ausrichtung auf diese Aufgabe im Zuständigkeitsbereich der Gefahrenabwehrbehörden der Länder bestimmt notwendig auch die Art der Hilfsmittel, die beim Einsatz der Streitkräfte zum Zweck der Hilfeleistung verwendet werden dürfen. Sie können nicht von qualitativ anderer Art sein als diejenigen, die den Polizeikräften der Länder für die Erledigung ihrer Aufgaben originär zur Verfügung stehen.

b) § 14 Abs. 3 LuftSiG ist auch mit Art. 35 Abs. 3 Satz 1 GG nicht vereinbar. Danach ist im Fall des überregionalen Katastrophennotstands zum Einsatz der Streitkräfte ausdrücklich nur die Bundesregierung ermächtigt. Dem werden die Regelungen im Luftsicherheitsgesetz nicht in ausreichendem Maße gerecht. Sie sehen vor, dass der Verteidigungsminister im Benehmen mit dem Bundesinnenminister entscheidet, wenn eine rechtzeitige Entscheidung der Bundesregierungnicht möglich ist.
Angesichts des knappen Zeitbudgets, das im vorliegenden Zusammenhang im Allgemeinen nur zur Verfügung steht, wird die Bundesregierung danach bei der Entscheidung über den Einsatz der Streitkräfte im überregionalen Katastrophenfall nicht nur ausnahmsweise, sondern regelmäßig durch einen Einzelminister ersetzt. Dies macht deutlich, dass Maßnahmen der in § 14 Abs. 3 LuftSiG normierten Art auf dem in Art. 35 Abs. 3 Satz 1 GG vorgesehenen Weg in der Regel nicht zu bewältigen sein werden.
Darüber hinaus ist der wehrverfassungsrechtliche Rahmen des Art. 35 Abs.3 Satz 1 GG vor allem deshalb überschritten, weil auch im Fall des überregionalen Katastrophennotstands ein Einsatz der Streitkräfte mit typisch militärischen Waffen von Verfassungs wegen nicht erlaubt ist.

2. § 14 Abs. 3 LuftSiG ist auch mit dem Recht auf Leben (Art. 2 Abs. 2Satz 1 GG) in Verbindung mit der Menschenwürdegarantie (Art. 1 Abs. 1GG) nicht vereinbar, soweit von dem Einsatz der Waffengewalttat unbeteiligte Menschen an Bord des Luftfahrzeugs betroffen werden.
Die einem solchen Einsatz ausgesetzten Passagiere und Besatzungsmitglieder befinden sich in einer für sie ausweglosen Lage. Sie können ihre Lebensumstände nicht mehr unabhängig von anderen selbstbestimmt beeinflussen. Dies macht sie zum Objekt nicht nur derTäter. Auch der Staat, der in einer solchen Situation zur Abwehrmaßnahme des § 14 Abs. 3 LuftSiG greift, behandelt sie als bloße Objekte seiner Rettungsaktion zum Schutze anderer.
Eine solche Behandlung missachtet die Betroffenen als Subjekte mit Würde und unveräußerlichen Rechten. Sie werden dadurch, dass ihre Tötung als Mittel zur Rettung anderer benutzt wird, verdinglicht und zugleich entrechtlicht; indem über ihr Leben von Staats wegen einseitig verfügt wird, wird den als Opfern selbstschutzbedürftigen Flugzeuginsassen der Wert abgesprochen, der dem Menschen um seiner selbst willen zukommt.
Dies geschieht zudem unter Umständen, die nicht erwarten lassen, dass in dem Augenblick, in dem über die Durchführung einer Einsatzmaßnahme nach § 14 Abs. 3 LuftSiG zu entscheiden ist, die tatsächliche Lage immer voll überblickt und richtig eingeschätzt werden kann.

Unter der Geltung des Art. 1 Abs. 1 GG (Menschenwürdegarantie) ist es schlechterdings unvorstellbar, auf der Grundlage einer gesetzlichen Ermächtigung unschuldige Menschen, die sich in einer derart hilflosenLage befinden, vorsätzlich zu töten.

Die Annahme, dass derjenige, derals Besatzungsmitglied oder Passagier ein Luftfahrzeug besteigt, mutmaßlich in dessen Abschuss und damit in die eigene Tötung einwilligt, falls dieses in einen Luftzwischenfall verwickelt wird, ist eine lebensfremde Fiktion. Auch die Einschätzung, dass die Betroffenen ohnehin dem Tod geweiht seien, vermag der Tötung unschuldiger Menschen in der geschilderten Situation nicht den Charakter eines Verstoßes gegenden Würdeanspruch dieser Menschen zu nehmen.
Menschliches Leben und menschliche Würde genießen ohne Rücksicht auf die Dauer der physischen Existenz des einzelnen Menschen gleichen verfassungsrechtlichen Schutz.

Die teilweise vertretene Auffassung, dass die an Bord festgehaltenen Personen Teil einer Waffe geworden seien und sich als solcher behandeln lassen müssten, bringt geradezu unverhohlen zum Ausdruck, dass die Opfer eines solchen Vorgangs nicht mehr als Menschen wahrgenommen werden.
Der Gedanke, der Einzelne sei im Interesse des Staatsganzen notfalls verpflichtet, sein Leben aufzuopfern, wenn es nur auf diese Weise möglich ist, das rechtlich verfasste Gemeinwesen vor Angriffen zubewahren, die auf dessen Zusammenbruch und Zerstörung abzielen, führt ebenfalls zu keinem anderen Ergebnis. Denn im Anwendungsbereich des § 14Abs. 3 LuftSiG geht es nicht um die Abwehr von Angriffen, die auf die Beseitigung des Gemeinwesens und die Vernichtung der staatlichen Rechts- und Freiheitsordnung gerichtet sind.

Schließlich lässt sich § 14 Abs. 3 LuftSiG auch nicht mit der staatlichen Schutzpflicht zugunsten derjenigen rechtfertigen, gegen deren Leben das als Tatwaffe missbrauchte Luftfahrzeug eingesetzt werden soll.
Zur Erfüllung staatlicher Schutzpflichten dürfen nur solche Mittel verwendet werden, die mit der Verfassung in Einklang stehen. Daran fehlt es im vorliegenden Fall.

3. § 14 Abs. 3 LuftSiG ist dagegen mit Art. 2 Abs. 2 Satz 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG insoweit vereinbar, als sich die unmittelbare Einwirkung mit Waffengewalt gegen ein unbemanntes Luftfahrzeug oder ausschließlich gegen Personen richtet, die das Luftfahrzeug als Tatwaffe gegen das Leben von Menschen auf der Erde einsetzen wollen. Es entspricht der Subjektstellung des Angreifers, wenn ihm die Folgen seines selbstbestimmten Verhaltens persönlich zugerechnet werden und er für das von ihm in Gang gesetzte Geschehen in Verantwortung genommen wird. Auch der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ist gewahrt.

Das mit § 14 Abs. 3 LuftSiG verfolgte Ziel, Leben von Menschen zu retten, ist von solchem Gewicht, dass es den schwerwiegenden Eingriff in das Grundrecht auf Leben der Täter rechtfertigen kann.
Die Schwere des gegen sie gerichteten Grundrechtseingriffs wird zudem dadurch gemindert, dass die Täter selbst die Notwendigkeit des staatlichen Eingreifens herbeigeführt haben und dieses Eingreifen jederzeit dadurch wieder abwenden können, dass sie von der Verwirklichung ihres verbrecherischen Plans Abstand nehmen. Gleichwohl hat die Regelung auch insoweit keinen Bestand, da es dem Bund schon an der Gesetzgebungskompetenz mangelt.

25 Januar 2006

Fernwärme-Anschlusszwang

Kommunaler Anschluss- und Benutzungszwang (Fernwärme) aus Gründen des Klimaschutzes mit Bundes- und Europarecht vereinbar

Das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig hat heute entschieden, dass die Satzung einer Gemeinde über die Anordnung eines Anschluss- und Benutzungszwangs an die öffentliche Fernwärmeversorgung aus Gründen des Klimaschutzes mit Bundes- und Europarecht vereinbar ist.
Die beklagte Kommune betreibt seit mehreren Jahrzehnten in Teilen ihres Stadtgebietes eine öffentliche Fernwärmeversorgung, für die sie durch Satzung einen Anschluss- und Benutzungszwang angeordnet hat. Zweck der Satzung ist der Schutz der Luft und des Klimas als natürliche Grundlagen des Lebens. Zu diesem Ziel soll die Fernwärmeversorgung mittels Kraft-Wärme-Kopplung einen Beitrag leisten. Durch einen möglichst hohen Versorgungsgrad sollen bei globaler Betrachtung unter Einbeziehung ersparter Kraftwerksleistungen an anderer Stelle klimaschädliche Kohlendioxid-Emissionen im Vergleich zu einer Wärmeversorgung mit Einzelfeuerungsanlagen verringert werden.
Das Grundstück der Klägerin ist seit Jahren an die öffentliche Fernwärmeversorgung der Beklagten angeschlossen. 1997 beantragte sie die Befreiung hiervon, weil sie das darauf befindliche Bürogebäude mit einer kostengünstigeren Einzelbefeuerungsanlage beheizen wollte. Diesen Antrag lehnte die beklagte Kommune ab. Die Klage vor dem Verwaltungsgericht blieb ebenso erfolglos wie die gegen dessen Urteil eingelegte Berufung. Das Oberverwaltungsgericht Schleswig-Holstein hat in Auslegung des Landesrechts, an die das Bundesverwaltungsgericht gebunden ist, festgestellt, dass ein dringendes öffentliches Bedürfnis im Sinne des § 17 Abs. 2 der Gemeindeordnung S-H für die Anordnung des Anschluss- und Benutzungszwangs auch dann angenommen werden könne, wenn die Fernwärmeversorgung nur bei globaler Betrachtung unter Einbeziehung ersparter Kraftwerksleistungen an anderer Stelle zu einer beachtlichen Verringerung des Schadstoffausstoßes führe.
Die dagegen gerichtete Revision der Klägerin hat das Bundesverwaltungsgericht unter Bestätigung seiner bisherigen Rechtsprechung zurückgewiesen. Art. 28 Abs. 2 GG stehe der Auslegung des Landesrechts durch das Berufungsgericht nicht entgegen. Er schließe es nicht aus, dass der Landesgesetzgeber in Erfüllung seiner ihm obliegenden Verpflichtung, auf die Verwirklichung der Staatszielbestimmung des Art. 20a GG hinzuwirken, den Kommunen zusätzliche Befugnisse übertrage, die den Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen sichern sollen. Der hier angeordnete Anschluss- und Benutzungszwang verstoße auch nicht gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Insbesondere obliege es der Entscheidung des Gesetzgebers, ob die Fernwärmeversorgung mit Kraft-Wärme-Kopplung ein zum Klimaschutz geeignetes Mittel ist. Auch europäische Wettbewerbsregeln stünden der Anordnung eines kommunalen Anschluss- und Benutzungszwangs aus Gründen des Klimaschutzes nicht entgegen.

BVerwG 8 C 13.05 Urteil vom 25. Januar 2006

27 Dezember 2005

BverfG: Reexe Gegendemonstration

Eilantrag gegen Verhängung von Auflagenfür geplante Demonstration ohne Erfolg

Der Antragsteller meldete für Samstag, den 3. Dezember 2005, zweiVersammlungen an. Die eine sollte in der Zeit von 12:30 Uhr bis 16:00Uhr in Rastatt unter dem Thema „Rastatt stellt sich quer – keineFreiräume für linksextreme Straftäter“ stattfinden, die zweite waranschließend ab 17:30 Uhr in der Innenstadt von Karlsruhe unter demMotto „Daniel Wretström, Sandro Weilkes, Pim Fortyn – kein Vergessen –kein Verzeihen!“ geplant. Die Behörde sprach für beide Versammlungen einVerbot aus. Auf Grund des Antrags des Antragstellers auf einstweiligenRechtsschutz ermöglichte das Verwaltungsgericht die Versammlungen unterbestimmten Auflagen. Hinsichtlich der in Karlsruhe geplanten Versammlungerteilte das Gericht unter anderem die Auflage, die Veranstaltung aufden Bahnhofsvorplatz zu beschränken, auf 14.00 Uhr vorzuverlegen undwährend der Tageslichtzeit durchzuführen. Die hiergegen gerichteteBeschwerde wies der Verwaltungsgerichtshof zurück. Er begründete seineEntscheidung erst, nachdem die Versammlung stattgefunden hatte.Im Wege eines Eilantrages wandte sich der Antragsteller gegen dieverhängten Auflagen. Die 1. Kammer des Ersten Senats desBundesverfassungsgerichts lehnte den Erlass einer einstweiligenAnordnung auf Grund einer Folgenabwägung ab.

Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zu Grunde:

Nicht zu beanstanden ist die Einschätzung des Verwaltungsgerichts, dassdie öffentliche Sicherheit bei Durchführung einer Versammlung im Zentrumder Innenstadt am späten Nachmittag des Samstag vor dem 2. Adventangesichts absehbarer Zusammenstöße mit Gegendemonstranten erheblichstärker gefährdet ist als bei Durchführung der Versammlung zurTageslichtzeit in einer nicht durch den Weihnachtsmarkt belegtenÖrtlichkeit. Die betroffenen Plätze und Straßen sind zu dem vomAntragsteller beabsichtigten Zeitpunkt erfahrungsgemäß dicht bevölkertund jedenfalls durch die Stände des Weihnachtsmarkts besondersunübersichtlich. Durch die Wahl einer Wegstrecke über denWeihnachtsmarkt will der Antragsteller offensichtlich dieZusammenballung besonders vieler Personen und die zu erwartendenBehinderungen der Besucher als Mittel zur Steigerung der Aufmerksamkeitfür sein Demonstrationsanliegen nutzen, obwohl dieses keinenthematischen Bezug zu Weihnachten hat. Der Aufzug durch denWeihnachtsmarkt führt wegen der notwendigen Schutzvorkehrungenunweigerlich zu Beeinträchtigungen der ebenfalls grundrechtlichgeschützten Entfaltungsmöglichkeiten der Passanten sowie der Inhaber derLäden und Buden. Die Verwaltungsbehörden und Gerichte haben auch derenGrundrechte in ihre Folgenabwägung einzubeziehen. Es ist vomAntragsteller nicht dargetan, dass die im Interesse desRechtsgüterschutzes anderer vorgenommene Begrenzung auf eine ortsfesteVersammlung an dem ebenfalls belebten Bahnhofsvorplatz einen schwerenNachteil für ihn darstellt.Ein schwerer Nachteil entsteht für den Antragsteller auch nicht daraus,dass die Veränderung des Zeitpunkts der Demonstration zu einerzeitlichen Kollision mit der von ihm in Rastatt geplanten Versammlungführt. Dem Antragsteller hätten Möglichkeiten zur Verfügung gestanden,der zeitlichen Kollision etwa durch Anmeldung der Versammlung in Rastattfür einen nunmehr veränderten Zeitpunkt entgegenzuwirken. DieVeranstaltungsmotti beider Versammlungen lassen nicht darauf schließen,dass das Abhalten der Veranstaltungen gerade an diesem Tag sowie inRastatt erst ab 12:30 Uhr zur Erfüllung der Anliegen des Antragstellersunabdingbar ist.Soweit der Verwaltungsgerichtshof seine Entscheidung erst begründet hat,nachdem die Versammlung durchgeführt war, merkt die Kammer Folgendes an:Die Ausstrahlungswirkung des Grundrechts der Versammlungsfreiheit istvon den Gerichten auch bei ihrer Entscheidung über den Zeitpunkt derBegründung zu berücksichtigen. Ist die Beantragung einstweiligenRechtsschutzes beim Bundesverfassungsgericht absehbar, so muss dieBegründung so frühzeitig erfolgen, dass der Antragsteller die Gründe inseinen Antrag einbeziehen und das Bundesverfassungsgericht sie in seinerEntscheidung berücksichtigen kann.

21 Dezember 2005

BGH: Mannesmann-Prozess

Nr. 179/2005
Bundesgerichtshof hebt Freisprüche im Mannesmann-Verfahren auf

Das Landgericht Düsseldorf hat die Angeklagten Prof. Dr. Funk, Dr. Ackermann, Zwickel und L. vom Vorwurf der Untreue zum Nachteil der früheren Mannesmann AG sowie die Angeklagten Dr. Esser und Dr. D. vom Vorwurf der Beihilfe zur Untreue freigesprochen. Auf die Revision der Staatsanwaltschaft hat der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs die Freisprüche aufgehoben und das Verfahren an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen. Es muss daher über die Anklagevorwürfe neu verhandelt und entschieden werden.
Nach den Feststellungen des Landgerichts beschlossen die Mitglieder des Aufsichtsratsausschusses für Vorstandsangelegenheiten (Präsidium) der Mannesmann AG Prof. Dr. Funk, Dr. Ackermann und Zwickel kurz nach der vereinbarten Übernahme durch das britische Telekommunikationsunternehmen Vodafone, freiwillige Anerkennungsprämien auszuschütten, und zwar an den Vorstandsvorsitzenden Dr. Esser in Höhe von ca. 16 Mio. € und an vier weitere Vorstandsmitglieder in der Gesamthöhe von über 5 Mio. €. Diese wurden im Hinblick auf ihre in der Vergangenheit erbrachten Leistungen bei der Steigerung des Aktien- und Unternehmenswertes zusätzlich zu den dienstvertraglichen Bezügen und Abfindungsansprüchen - beim Angeklagten Dr. Esser in Höhe von ca. 15 Mio. € - gezahlt. Weiterhin entschied das Präsidium unter Beteiligung der Angeklagten Dr. Ackermann und Zwickel, dem früheren Vorstandsvorsitzenden Prof. Dr. Funk ebenfalls eine freiwillige Sonderzahlung in Höhe von ca. 3 Mio. € zuzuwenden, wobei das Motiv allein der Wunsch des Begünstigten war, wie die aktiven Vorstandsmitglieder eine Anerkennungsprämie zu erhalten. Außerdem beschloss das Präsidium mit den Angeklagten Dr. Ackermann, Zwickel und L. auf Vorschlag des Angeklagten Prof. Dr. Funk, die Ansprüche von 18 Pensionären auf Zahlung der sogenannten Alternativpension mit über 32 Mio. € abzufinden, obwohl sie erkannten, dass diese langfristig ihren wirtschaftlichen Wert verlieren würde.
Zu den Anerkennungsprämien hat der Bundesgerichtshof ausgeführt, dass die Mitglieder des Aufsichtsrats (Präsidiums) die Pflicht haben, sich auch bei Entscheidungen über die Bezüge von Vorstandsmitgliedern ausschließlich am Unternehmensinteresse zu orientieren. Diese Vermögensbetreuungspflicht haben sie in der Übernahmesituation durch die Bewilligung der Sonderzahlungen im Sinne des Untreuetatbestandes verletzt, weil diese der Mannesmann AG keinen Vorteil brachten und die honorierten Leistungen bereits durch die dienstvertraglichen Vergütungen abgegolten waren.
Keinen Bestand haben kann auch die Auffassung des Landgerichts, die Angeklagten Dr. Ackermann und Zwickel hätten sich bei der Bewilligung der an Prof. Dr. Funk gezahlten Anerkennungsprämie in einem unvermeidbaren Verbotsirrtum befunden. Denn die Rechtswidrigkeit einer willkürlichen Sonderzahlung in Millionenhöhe allein aufgrund des Wunsches des Begünstigten musste sich ihnen als offensichtlich aufdrängen.
Die Freisprüche hinsichtlich der Abgeltung der Pensionsansprüche wurden aufgehoben, weil die vom Landgericht getroffenen Feststellungen so lückenhaft sind, dass nicht überprüft werden kann, ob die Präsidiumsmitglieder die Grenzen des unternehmerischen Ermessens überschritten und deshalb die Mannesmann AG pflichtwidrig geschädigt haben.

Urteil vom 21. Dezember 2005 - 3 StR 470/04

16 Dezember 2005

Markenrecht: Porsche

Nr. 178/2005
Form des Porsche Boxster kann als Marke eingetragen werden

Der u.a. für das Markenrecht zuständige I. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat entschieden, dass die Form eines Automobils als dreidimensionale Marke ins Markenregister eingetragen werden kann.
Die Dr. Ing. h.c. F. Porsche AG hatte 1997 die äußere Gestaltung des im Herbst 1996 vorgestellten Porsche Boxster als dreidimensionale Marke für die Waren „Kraftfahrzeuge und deren Teile“ angemeldet.
Das Deutsche Patent- und Markenamt hatte die Anmeldung mit der Begründung zurückgewiesen, das angemeldete Zeichen erschöpfe sich in der bloßen formgetreuen Wiedergabe der Waren, zu deren Kennzeichnung es gedacht sei; es fehle daher an der erforderlichen Unterscheidungskraft. Außerdem stehe der Eintragung ein Freihaltebedürfnis an der äußeren Gestaltungsform eines Kraftfahrzeugs entgegen, die nicht nur auf den ästhetischen Eindruck, sondern auch auf technische Erfordernisse abziele. Das Bundespatentgericht hatte die Beschwerde von Porsche zurückgewiesen und auch die Eintragung als durchgesetztes Zeichen abgelehnt. Das Markengesetz sieht vor, dass ein Zeichen eingetragen werden kann, dem von Haus aus die notwendige Unterscheidungskraft fehlt oder dem an sich ein schutzwürdiges Freihaltebedürfnis entgegensteht, wenn sich dieses Zeichen infolge der Benutzung im Verkehr als Herkunftshinweis durchgesetzt hat.
Auf die Rechtsbeschwerde der Porsche AG hat der Bundesgerichtshof die Entscheidung des Bundespatentgerichts aufgehoben. An der Unterscheidungskraft fehle es dem angemeldeten Zeichen nicht. Zwar werde die äußere Form eines Produkts häufig nicht als Hinweis auf einen bestimmten Hersteller verstanden, so dass dreidimensionalen Zeichen, die sich in der Wiedergabe der äußeren Gestalt einer bestimmten Ware erschöpften, die Unterscheidungskraft fehle. Bei Automobilen seien die Verbraucher dagegen seit langem daran gewöhnt, von der äußeren Form des Fahrzeugs auf den Hersteller zu schließen. Dagegen hat der BGH den Einwand gelten lassen, dass an der Form von Automobilen grundsätzlich ein Freihaltebedürfnis besteht. Die Kfz-Hersteller seien dringend darauf angewiesen, bei der Gestaltung von Automobilen auf eine Formenvielfalt zurückgreifen zu können. Wäre es möglich, sich die Form eines Autos auch vor der Markteinführung als Marke schützen lassen, müsste damit gerechnet werden, dass Markenrechte an einer Vielzahl von Formgestaltungen entstünden, und zwar nicht nur aufgrund von Anmeldungen der Automobilindustrie. Nach dem Gesetz könnte jedermann solche Marken erwerben. Erst wenn sie nach fünf Jahren immer noch nicht benutzt würden, könnte eine Löschung solcher Marken beantragt werden. Der Spielraum für Neuentwicklungen würde dadurch erheblich verengt.
Dieses berechtigte Interesse an der Formenvielfalt trete jedoch zurück, wenn es um die Form eines Automobils gehe, das bereits im Markt eingeführt sei. In dem zu entscheidenden Fall war die Marke erst fast ein Jahr nach der Markteinführung angemeldet worden. Die Form eines Sportwagens, über dessen Markteinführung – wie im Fall des Porsche Boxster – ausführlich in den Medien berichtet worden sei, habe sich – so der BGH – jedenfalls nach nicht allzu langer Zeit als Hinweis auf den bekannten Hersteller durchgesetzt. Porsche könne daher die Eintragung der angemeldeten Formmarke als durchgesetztes Zeichen beanspruchen.


Beschluss vom 15. Dezember 2005 – I ZB 33/04
Bundespatentgericht – Entscheidung vom 13. Oktober 2004 – 28 W (pat) 102/00
Karlsruhe, den 16. Dezember 2005

14 Dezember 2005

Strafrechtliche Vermögensabschöpfung wird verbessert

Unrecht Gut gedeihet nicht: Strafrechtliche Vermögensabschöpfung wird verbessert
Presseerklärung - Berlin, 14. Dezember 2005

Das Bundeskabinett hat heute den von Bundesjustizministerin Brigitte Zypries vorgelegten Gesetzentwurf zur Stärkung der Rückgewinnungshilfe und der Vermögensabschöpfung bei Straftaten beschlossen.
„Die Begehung von Straftaten darf sich nicht lohnen. Kriminelle Gewinne müssen deshalb wirksam abgeschöpft und vorrangig den Opfern zur Verfügung gestellt werden. Die Praxis hat in diesem Bereich in den letzten Jahren große Fortschritte gemacht und damit einen wichtigen Beitrag insbesondere auch zur Bekämpfung der durch Gewinnstreben gekennzeichneten Organisierten Kriminalität geleistet. Mit dem Gesetzentwurf werden wir die Instrumentarien weiter verbessern. Das kommt den Opfern zu Gute und dient einer effektiven Strafrechtspflege“, sagte Zypries.

Kernstück des Entwurfs ist ein Auffangrechtserwerb des Staates: Nach geltendem Recht kann nicht in allen Fällen verhindert werden, dass kriminelle Gewinne wieder an den Täter zurückfallen. Sind die Opfer der Straftat unbekannt oder verfolgen sie ihre Ansprüche nicht, müssen die Vermögenswerte, die durch die Straftat erlangt und im Strafverfahren vorläufig sichergestellt wurden, grundsätzlich wieder an den Täter heraus gegeben werden. Dies ist unbefriedigend. Der Gesetzentwurf schafft in diesen Fällen Abhilfe, indem er ein Verfahren für einen späteren Auffangrechtserwerb des Staates bereitstellt, wenn die Opfer ihre Ansprüche nicht binnen drei Jahren nach der Verurteilung des Täters geltend machen.

Beispiele:

• Ein Täter betrügt zahlreiche Personen um geringe Geldbeträge, zum Beispiel durch den verschleierten Verkauf minderwertigen Fleisches. Er erzielt dadurch einen beträchtlichen Gewinn, der von der Staatsanwaltschaft zugunsten der Geschädigten sichergestellt wird. Die Geschädigten sehen im Hinblick auf ihren jeweils relativ geringen Schaden davon ab, gegen den Betrüger gerichtlich vorzugehen und einen Titel zu erwirken.

• Der Betrüger hat jeweils große Schadenssummen "ergaunert", etwa durch falsche Angaben über Kapitalanlagen. Die Geschädigten machen ihre Ansprüche aber nicht geltend, weil es sich bei dem von ihnen eingesetzten Vermögen jeweils um "Schwarzgeld" (unversteuerte Einnahmen) handelte.

Lösung:
Geltendes Recht: Weil die Ersatzansprüche der Geschädigten Vorrang haben, kann das betrügerisch erlangte Vermögen jeweils nicht zugunsten des Staates für verfallen erklärt werden. Konsequenz: Das sichergestellte Vermögen muss dem Täter spätestens drei Monaten nach der Verurteilung wieder zurückgegeben werden.

Künftige Regelung: Die Geschädigten haben drei Jahre Zeit, ihre Ansprüche geltend zu machen und Zwangsvollstreckungsmaßnahmen in das sichergestellte Vermögen zu betreiben. Die Frist läuft ab dem Zeitpunkt der Verurteilung des Täters im Strafverfahren. Unterlassen dies die Geschädigten, so fällt das sichergestellte Vermögen nach Ablauf der drei Jahre an den Staat (sog. Auffangrechtserwerb des Staates).

Der Entwurf sieht ferner vor, dass die Ansprüche der Opfer grundsätzlich Vorrang gegenüber denen sonstiger Gläubiger des Täters erhalten. Außerdem wird die Information der Opfer verbessert: Sind die Opfer persönlich noch unbekannt, z.B. bei einer groß angelegten Betrugskampagne, kann die Staatsanwaltschaft im elektronischen Bundesanzeiger (www.ebundesanzeiger.de) mitteilen, dass Sicherungsmaßnahmen gegen das Vermögen des Beschuldigten ergangen sind. Daneben enthält der Entwurf zahlreiche Detailverbesserungen im Verfahrensrecht, z.B. werden die Zuständigkeiten klarer und praxisnäher ausgestaltet.

13 Dezember 2005

BVerfG: Vaterrechte

Erfolgreiche Verfassungsbeschwerde gegen Ersetzung der Einwilligungdes leiblichen Vaters in Stiefkindadoption

Die Verfassungsbeschwerde des leiblichen Vaters eines nichtehelichgeborenen Kindes gegen dessen Adoption durch den Ehemann derKindesmutter war erfolgreich.

Die 1. Kammer des Ersten Senats hob dieangegriffenen Entscheidungen, mit denen die Einwilligung des leiblichenVaters in die Adoption ersetzt worden war, auf. Sie genügten nicht den –auf dem Gleichheitssatz gründenden – verfassungsrechtlichenAnforderungen einer umfassenden Interessenabwägung zwischen denInteressen des Kindes und denen des Vaters.

Rechtlicher Hintergrund und Sachverhalt:


Grundsätzlich ist zur Adoption eines Kindes die Einwilligung beiderElternteile nötig. In bestimmten Ausnahmefällen ermöglicht das Gesetzdie Adoption des Kindes aber auch gegen den Willen eines Elternteils.Bei einem besonders schweren, vollständigen Versagen eines Elternteilsin seiner Verantwortung gegenüber dem Kind kann die Einwilligung diesesElternteils durch das Vormundschaftsgericht ersetzt werden. Für nichteheliche Väter, die die elterliche Sorge weder innehaben noch innegehabt haben, enthält § 1748 Abs. 4 BGB eine besondere Regelung. Danachist die Einwilligung bereits dann zu ersetzen, wenn das Unterbleiben derAdoption dem Kind zu unverhältnismäßigem Nachteil gereichen würde.
Der Beschwerdeführer ist Vater eines im Januar 1987 nichtehelich geborenen Sohnes. Er erkannte die Vaterschaft gleich nach der Geburt an.Zu dieser Zeit lebte er mit der Mutter des Kindes zusammen. 1989 trennte sich die Mutter von ihm und heiratete im Sommer 1990 ihren jetzigenEhemann. Der letzte von der Kindesmutter gebilligte Kontakt des Beschwerdeführers mit seinem Sohn fand im Mai 1990 statt. Weitere Besuche wurden von der Mutter unterbunden. Nachdem der Ehemann derKindesmutter die Adoption des Kindes beantragt hatte, ersetzte dasAmtsgericht im Januar 2001 auf der Grundlage von § 1748 Abs. 4 BGB dieZustimmung des Beschwerdeführers in die Adoption. Rechtsmittel desBeschwerdeführers wurden vom Landgericht und Oberlandesgerichtzurückgewiesen. Die gegen die fachgerichtlichen Entscheidungen erhobeneVerfassungsbeschwerde hatte Erfolg.

Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zu Grunde:

Nach § 1748 Abs. 4 BGB kann die Einwilligung eines zu keinem Zeitpunktsorgeberechtigt gewesenen Vaters eines nichtehelich geborenen Kindesunter leichteren Voraussetzungen ersetzt werden, als dies bei denübrigen Vätern der Fall ist. Gleichwohl ist die Regelung mit dem Gleichheitssatz vereinbar, da die Norm einer verfassungskonformen Auslegung zugänglich ist, die eine Ungleichbehandlung verhindern kann. Wie schon der Bundesgerichtshof in seiner Entscheidung vom 23. März 2005 festgestellt hat, erfordert die verfassungsrechtlich gebotene Abwägung der Interessen von Vater und Kind, bei der Entscheidung über einebeantragte Adoption nur dann von einem „unverhältnismäßigen Nachteil“i.S. des § 1748 Abs. 4 BGB auszugehen, wenn die Adoption für das Kind einen so erheblichen Vorteil hat, dass ein sich verständig um das Kind sorgender Elternteil auf der Erhaltung des Verwandtschaftsbandes nicht bestehen würde. Der Bundesgerichtshof hat darauf hingewiesen, dass auf Seiten des Vaters unter anderem zu erwägen sein werde, ob ein gelebtes Vater-Kind-Verhältnis bestehe oder bestanden habe oder welche Gründe denVater am Aufbau oder an der Aufrechterhaltung eines solchen Verhältnisses gehindert hätten. Der Sache nach hat der Bundesgerichtshofinsoweit geklärt, dass § 1748 Abs. 4 BGB (ebenso wie dies in den übrigen Fällen der Ersetzung der Einwilligung eines Elternteils erforderlichist) eine Berücksichtigung des Vorverhaltens des Vaters verlangt. Damit hat der Bundesgerichtshof dem verfassungsrechtlichen Erfordernis einer Abwägung zwischen den Interessen des Kindes und denen des Vaters Rechnung getragen. Auf diese Weise wird eine wesentlicheUngleichbehandlung von nichtsorgeberechtigten nichtehelichen Vätern und den übrigen Vätergruppen vermieden. Die vom Beschwerdeführer angegriffenen Entscheidungen genügen nichtdiesen durch den Gleichheitssatz gebotenen Auslegungsmaßstäben. Die Fachgerichte haben im Rahmen der verfassungsrechtlich gebotenen Abwägungder Interessen des Kindes mit denen des Beschwerdeführers diegrundrechtlich geschützten Interessen des Beschwerdeführers nicht angemessen gewürdigt. Sie haben sich auf die Feststellung beschränkt, dass zwischen dem Beschwerdeführer und dem Kind seit elf Jahren faktisch keine Vater-Kind-Beziehung mehr bestehe. Nicht berücksichtigt wurde, dass der Beschwerdeführer zumindest einige Zeit mit dem Kind zusammen gelebt und seine Elternverantwortlichkeit wahrgenommen hat. Die verfassungsrechtlich gebotene Prüfung, welche Gründe den Vater an der Aufrechterhaltung eines gelebten Vater-Kind-Verhältnisses gehindert haben, haben die Gerichte ersichtlich nicht vorgenommen.

BVerfG: Sitzblockade und Freiheitsentzug

Erfolgreiche Verfassungsbeschwerde gegenfreiheitsentziehende Maßnahmen nach Castor-Sitzblockade

Die Beschwerdeführerin nahm im November 2001 im Zusammenhang mit einemCastor-Transport mit rund 200 Personen an einer Straßensitzblockadeteil. Als sie einem Platzverweis nicht nachkam, nahm die Polizei sie von10.20 Uhr bis 8.23 Uhr des darauf folgenden Tages in Gewahrsam, ohnedass sich während dieser Zeit ein Richter mit der Sache befasst hatte.Ihre hiergegen gerichtete Verfassungsbeschwerde hatte Erfolg. Die 2.Kammer des Zweiten Senats stellte fest, dass die angegriffenenBeschlüsse des Amtsgerichts und des Landgerichts, die die nachträglichenAnträge der Beschwerdeführerin auf Feststellung der Rechtswidrigkeit derFreiheitsentziehung sowie der Art und Weise ihrer Durchführungzurückgewiesen hatten, die Beschwerdeführerin in ihremFreiheitsgrundrecht sowie ihrem Recht auf effektiven Rechtsschutzverletzten. Die Gerichte hätten den entscheidungserheblichen Sachverhaltnicht hinreichend aufgeklärt. Die Sache wurde zur erneuten Entscheidungan das Landgericht zurückverwiesen.Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zu Grunde:1. Eine Freiheitsentziehung erfordert grundsätzlich eine vorherigerichterliche Anordnung. Eine nachträgliche richterliche Entscheidunggenügt nur in Ausnahmefällen. In einem solchen Fall ist die richterlicheEntscheidung unverzüglich nachzuholen. Das Gebot der Unverzüglichkeitverpflichtet zum einen die Polizei, eine richterliche Entscheidungunverzüglich herbeizuführen. Zum anderen muss auch die weitereSachbehandlung durch den Richter dem Gebot der Unverzüglichkeitentsprechen. Darüber hinaus ist es unverzichtbare Voraussetzungrechtsstaatlichen Verfahrens, dass Entscheidungen, die den Entzug derpersönlichen Freiheit betreffen, auf zureichender richterlicherSachaufklärung beruhen.Diesen Anforderungen werden die angegriffenen Beschlüsse nicht gerecht.Zum einen haben die Gerichte den zeitlichen Ablauf des polizeilichenVorgehens im Rahmen der Gewahrsamsnahme nicht analysiert. Hierzu hätteVeranlassung bestanden, weil Zeiträume von mehreren Stunden im Ablaufder Gewahrsamnahme ungeklärt sind. Die Beschwerdeführerin wurde um 10.20Uhr in Gewahrsam genommen, um 13.19 Uhr traf das Transportfahrzeug inder Gefangenensammelstelle ein. Ein – erst um 21:01 Uhr erstellter –Datenerfassungsbogen nennt als Aufnahmezeit hinsichtlich derBeschwerdeführerin 16:25 Uhr. Der Antrag der Bezirksregierung aufrichterliche Entscheidung über die Zulässigkeit derfreiheitsbeschränkenden Maßnahme datiert zwar noch vom selben Tag. Auseiner Mitteilung des Amtsgerichts ergibt sich aber, dass dieser erst amnächsten Tag bei Gericht eingegangen ist, ohne dass die genaue Uhrzeitermittelt werden konnte. Die Ausführungen der Fachgerichte zu diesemzeitlichen Ablauf innerhalb der Gefangenensammelstelle beschränken sichauf allgemeine blankettartige Begründungen, die nicht auf den konkretenFall eingehen. Um der hohen Bedeutung des Richtervorbehalts alsSicherung gegen unberechtigte Freiheitsentziehungen gerecht zu werden,hätte das Amtsgericht die konkreten Umstände der eingetretenenVerzögerungen, die das unverzügliche Anhängigmachen des Antrags aufZulässigkeit und Fortdauer der Gewahrsamnahme verhindert haben,aufklären müssen.Ferner gibt die Art und Weise der Durchführung des richterlichenBereitschaftsdienstes Anlass zu verfassungsrechtlichen Beanstandungen.Der richterliche Bereitschaftsdienst konnte sich nicht auf die Tageszeitbeschränken, sondern musste auch eine Regelung für die Nachtzeitbeinhalten, da aufgrund der zu erwartenden Massendemonstrationen miteiner Vielzahl von Ingewahrsamnahmen gerechnet werden musste, die nichtsämtlich zur Tageszeit sachgerecht bewältigt werden konnten.2. Die angegriffenen Entscheidungen verletzen die Beschwerdeführerinferner in ihrem Recht auf effektiven Rechtsschutz. DieBeschwerdeführerin hat gerügt, dass die Art und Weise des Vollzuges desGewahrsams einer Ersatzbestrafung gleich gekommen sei. Diesem Vorbringenist immanent, dass bessere Bedingungen des Vollzugs durch einesachgerechte Planung, eine bessere Organisation und Koordinierung wieauch durch eine anderweitige Unterbringung möglich gewesen seien. Dendamit von der Beschwerdeführerin in tatsächlicher Hinsicht aufgeworfenenFragen sind die Gerichte nicht nachgegangen. Ihnen hätte es oblegen, dieGründe für die Auswahl des Standorts der Gefangenensammelstelle, ihreKapazitätsgestaltung und die Frage einer zureichenden Ausstattung zuermitteln und unter Berücksichtigung der behördlicherseits geltendgemachten Belange sowie behördlicher Prognose- und Ermessensspielräumezu würdigen.

12 Dezember 2005

Geistiges Eigentum wird gestärkt

Presseerklärung - Berlin, 12. Dezember 2005

Das Bundesjustizministerium hat heute den Referentenentwurf zur Umsetzung der EU- Durchsetzungs-Richtlinie den Bundesministerien zur Stellungnahme zugeleitet. Der Gesetzentwurf soll den Kampf gegen Produktpiraterie erleichtern und leistet damit einen Beitrag zur Stärkung des geistigen Eigentums.
"Der Schutz von kreativem Schaffen ist gerade für die Deutsche Wirtschaft in einem roh-stoffarmen Umfeld von herausragender Bedeutung. Denn ohne wirksame Rechtsdurchsetzung werden Innovationen gebremst, weil sich Investitionen nicht rentieren. Produktpiraterie fügt der Deutschen Volkswirtschaft beträchtlichen Schaden zu und vernichtet Arbeitsplätze. Deshalb wollen wir für einen Schutz des geistigen Eigentums sorgen, der den Anforderungen des 21. Jahrhunderts genügt", erläuterte Bundesjustizministerin Brigitte Zypries.

Der Gesetzentwurf setzt die Richtlinie durch eine Novellierung von mehreren Gesetzen zum Schutz des geistigen Eigentums um: Patentgesetz, Gebrauchsmustergesetz, Markengesetz, Halbleiterschutzgesetz, Urheberrechtsgesetz, Geschmacksmustergesetz, Sortenschutzgesetz werden weitgehend wortgleich geändert.

Der Gesetzentwurf hat folgende inhaltliche Schwerpunkte:

• Schadensbeseitigung bei Schutzrechtsverletzung
Der Gesetzentwurf stellt im Einklang mit der bisherigen Rechtsprechung klar, dass nach Wahl des Verletzten der Gewinn oder das Entgelt, das der Verletzer für die rechtmäßige Nutzung des Rechts hätte bezahlen müssen – d.h. die Lizenzgebühr -, als Schaden erstattungsfähig sein können.
Beweisführung
Bei hinreichender Wahrscheinlichkeit einer Schutzrechtsverletzung gewährt der Entwurf einen Anspruch des Verletzten gegen den Verletzer auf Vorlage von Urkunden oder sogar auf Zulassung der Besichtigung einer Sache. Ist zu vermuten, dass die Rechtsverletzung in gewerblichem Ausmaß begangen wurde, erstreckt sich der Anspruch auch auf die Vorlage von Bank-, Finanz- und Handelsunterlagen.

• Urteilsbekanntmachung
Der Rechtsinhaber kann nach geltendem Recht die Veröffentlichung des Gerichtsurteils beantragen, durch das der Verletzer eines Urheber- oder Geschmacksmusterrechtes verurteilt worden ist. Diese Möglichkeit wird auf alle Rechte des geistigen Eigentums erstreckt.

• Auskunftsansprüche
Das geltende Recht sieht bereits seit langem einen zivilrechtlichen Auskunftsanspruch des Rechtsinhabers gegen denjenigen vor, der geistiges Eigentum verletzt. Die Richtlinie und das Umsetzungsgesetz sehen vor, dass der Rechtsinhaber unter bestimmten Voraussetzungen jetzt auch einen Auskunftsanspruch gegen Dritte erhält, die selbst nicht Rechtsverletzer sind. Der Rechtsinhaber soll damit die Möglichkeit erhalten, den Rechtsverletzer mit zivilrechtlichen Mitteln zu ermitteln, um so seine Rechte gerichtlich besser durchsetzen zu können. Diese Regelung wird vor allem bei Urheberrechtsverletzungen im Internet (illegale Tauschbörsen!) relevant werden.

• Schutz geographischer Herkunftsangaben
Die zivilrechtliche Durchsetzung von Schutzrechten wird auch für geographische Herkunftsangaben in der beschriebenen Weise erleichtert. Außerdem soll durch die Änderung des Markengesetzes ein strafrechtlicher Schutz für solche geographische Angaben und Ursprungsbezeichnungen geschaffen werden, die auf europäischer Ebene nach der Verordnung zum Schutz von geographischen Angaben und Ursprungsbezeichnungen für Agrarerzeugnisse und Lebensmittel geschützt sind. Dazu gehören die Bezeichnungen zahlreicher landwirtschaftlicher Produkte wie z.B. die berühmten „Spreewälder Gurken“. Bisher gab es einen solchen Schutz nur für die nach rein innerstaatlichem Recht geschützten Bezeichnungen.

• Einstweiliger Rechtsschutz
Nach den allgemeinen prozessrechtlichen Regeln dürfen einstweilige Verfügungen den geltend gemachten Anspruch nur sichern, nicht bereits erfüllen. Es gilt das so genannte Verbot der Vorwegnahme der Hauptsache. Hiervon wird für die Durchsetzung der Rechte des geistigen Eigentums abgewichen.

05 Dezember 2005

BVerfG: nach 8 Jahren U-Haft

Anordnung der Haftentlassung nach 8-jähriger Untersuchungshaftwegen Verletzung des Beschleunigungsgebots

Die Verfassungsbeschwerde eines Angeklagten, der sich seit über acht Jahren wegen des Verdachts des Herbeiführens einer Sprengstoffexplosionmit sechsfachem Mord und zweifachem Mordversuch in Untersuchungshaftbefindet, war erneut erfolgreich.

Die 3. Kammer des Zweiten Senats desBundesverfassungsgerichts stellte fest, dass die angegriffenenEntscheidungen des Oberlandesgerichts und des Landgerichts denBeschwerdeführer wegen Verletzung des in Haftsachen geltenden Beschleunigungsgebots in seinem Freiheitsgrundrecht verletzen. Siewurden zusammen mit dem zu Grunde liegenden Haftbefehl aufgehoben. DasOberlandesgericht wurde angewiesen, den Beschwerdeführer unverzüglichaus der Untersuchungshaft zu entlassen.

Sachverhalt:

Der Beschwerdeführer befindet sich seit dem 2. August 1997 inUntersuchungshaft. Ihm liegt zur Last, im Juli 1997 vorsätzlich eineGasexplosion herbeigeführt zu haben, die das dem Beschwerdeführergehörende Mietwohnhaus vollständig zerstörte, sechs Hausbewohner töteteund zwei weitere schwer verletzte. Nach einer Verfahrensdauer von übervier Jahren verurteilte ihn das Landgericht am 16. August 2001 wegenHerbeiführens einer Sprengstoffexplosion mit Todesfolge tateinheitlichmit sechsfachem Mord und zweifachem Mordversuch zu lebenslangerFreiheitsstrafe.Auf die Revision des Beschwerdeführers hob der Bundesgerichtshof am 24.Juli 2003 die Entscheidung des Landgerichts wegen einesVerfahrensfehlers auf. Die Angaben der Zeugin H. vor demErmittlungsrichter hätten nicht im Urteil verwertet werden dürfen, weilder Beschwerdeführer und sein damaliger Verteidiger entgegen denstrafprozessualen Bestimmungen nicht von dem Vernehmungsterminbenachrichtigt worden seien. Die Sache wurde zur erneuten Verhandlungund Entscheidung an das Landgericht zurückverwiesen. Die neueVerhandlung gegen den Beschwerdeführer hat am 6. Februar 2004 begonnenund dauert an.Der Antrag des Beschwerdeführers, den Haftbefehl außer Vollzug zusetzen, blieb vor dem Landgericht und Oberlandesgericht ohne Erfolg. Aufseine Verfassungsbeschwerde hin hob das Bundesverfassungsgerichts dieEntscheidung des Oberlandesgerichts auf und verwies die Sache zuerneuter Entscheidung an das Oberlandesgericht zurück (Beschluss vom 23.September 2005 – 2 BvR 1315/05 -; Pressemitteilung Nr. 94/2005 vom 30.September 2005). Am 8. November 2005 verwarf das Oberlandesgericht dieHaftbeschwerde erneut. Die nochmalige Überprüfung der Verfahrensaktenhabe keine der Justiz anzulastenden vermeidbaren Verfahrensverzögerungenergeben. Die gegen diese Entscheidung gerichtete Verfassungsbeschwerdehatte Erfolg.

Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zugrunde:

Das Oberlandesgericht hat unter Missachtung der Bindungswirkung dervorausgegangenen Kammerentscheidung vom 23. September 2005 erneut nichtberücksichtigt, dass durch die Aufhebung des erstinstanzlichen Urteilsund die Zurückverweisung der Sache eine dem Staat zuzurechnendeVerfahrensverzögerung schon deshalb vorliegt, weil das ergangene Urteilverfahrensfehlerhaft war.Dem kann, anders als das Oberlandesgericht meint, nicht mit Erfolgentgegengehalten werden, dass die Verfahrensverlängerung aufgrund derAufhebung des ersten Urteils im Revisionsverfahren Ausprägung einerrechtsstaatlichen Ausgestaltung des Rechtsmittelsystems sei und deshalbeinen Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot in Haftsachen nichtbegründen könne. Zwar ist es verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden,die infolge der Durchführung eines Revisionsverfahrens verstrichene Zeitnicht der ermittelten Überlänge eines Verfahrens hinzuzurechnen. Hiervonist aber dann eine Ausnahme zu machen, wenn das Revisionsverfahren derKorrektur eines offensichtlich der Justiz anzulastendenVerfahrensfehlers gedient hat. Entgegen der Auffassung desOberlandesgerichts kommt es nicht darauf an, ob es sich um einen„eklatanten“ Verfahrensfehler handelt. Maßgebend ist allein, in wessenSphäre der Verfahrensfehler wurzelt, in der des Beschwerdeführers oderin der der Justiz. Da vorliegend nur die Justiz von der bevorstehendenermittlungsrichterlichen Vernehmung der Zeugin H. Kenntnis hatte, konnteauch nur die Justiz der Benachrichtigungspflicht genügen. Der aus demUnterlassen dieser Verpflichtung und der aus der späteren Verwertung derAussage des Ermittlungsrichters resultierende Verfahrensfehler ist daherallein der Justiz anzulasten.Angesichts der dadurch bedingten Verfahrensverlängerung von nahezu 25Monaten (von der Einlegung der Revision gegen das erstinstanzlicheUrteil vom 16. August 2001 bis zur Rückkehr der Akte zurStaatsanwaltschaft nach Abschluss des Revisionsverfahrens am 4.September 2003 gerechnet) kann auch von einer lediglich kleinenVerzögerung, die entsprechend dem Gewicht der zu ahndenden Straftateneine Fortdauer der Untersuchungshaft noch rechtfertigen könnte, keineRede mehr sein. Damit ist allein schon aus diesem Grunde eine Verletzungdes Beschleunigungsgebots in Haftsachen gegeben, die zwingend zurAufhebung des Haftbefehls wegen Unverhältnismäßigkeit führen muss.Dessen ungeachtet weist das Verfahren eine Vielzahl weiterergravierender Verletzungen des Beschleunigungsgebots in Haftsachen auf,die jede für sich, aber erst recht in ihrer Gesamtheit zur Aufhebung derUntersuchungshaft zwingen.

Wegen der Einzelheiten wird auf den Entscheidungsinhalt verwiesen.

25 November 2005

Verkauf verdorbener Lebensmittel ist strafbar

Verkauf verdorbener Lebensmittel ist strafbar
Presseerklärung - Berlin, 24. November 2005

Bundesjustizministerin Brigitte Zypries weist angesichts der jüngsten Vorkommnisse im Lebensmittelhandel auf die Möglichkeit hin, Verstöße auch strafrechtlich zu ahnden:

„Das geltende Strafrecht schützt Verbraucherinnen und Verbraucher umfassend vor kriminellen Machenschaften im Lebensmittelhandel. Regelungslücken gibt es insoweit nicht. Natürlich kann Gesetzgebung allein kriminelles Verhalten nicht unterbinden. Es bedarf auch effektiver Prävention und Kontrolle. Die zuständigen Behörden sind aufgerufen, schnell und umfassend von dem rechtlichen Instrumentarium Gebrauch zu machen, damit die jetzt bekannt gewordenen Vorfälle aufgeklärt und die Verantwortlichen ermittelt werden können,“ sagte Zypries.

Der Weiterverkauf minderwertiger Ware - wie etwa Schlachtabfälle als lebensmitteltauglich - erfüllt den Tatbestand des Betruges (§ 263 Strafgesetzbuch), wenn die Käufer durch das Umdeklarieren der Ware getäuscht werden. Gleiches gilt, wenn den Abnehmern ein falsches Mindesthaltbarkeitsdatum vorgespiegelt wird. Wird durch den Verkauf verdorbenen Fleisches die Gesundheit der Verbraucherinnen und Verbraucher geschädigt, greifen Körperverletzungstatbestände ein (§§ 223 ff. Strafgesetzbuch). Darüber hinaus stellt das neue Lebensmittel-, Bedarfsgegenstände- und Futtermittelgesetzbuch (LFGB) Verstöße gegen verbraucherschützende Rechtsvorschriften mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren unter Strafe (§§ 58, 59 LFGB).


  • Diskussionen
  • www.gesetze-im-internet.de

    Presseerklärung - Berlin, 25. November 2005

    Bundesjustizministerin Brigitte Zypries hat heute im Rahmen des Festaktes zum 20-jährigen Jubiläum der juris GmbH den öffentlichen Zugang auf alle Gesetze und Rechtsverordnungen des Bundes im Internet freigeschaltet.

    „Unter www.gesetze-im-internet.de stellt das Bundesjustizministerium in einem gemeinsamen Projekt mit der juris GmbH Bürgerinnen und Bürger das gesamte aktuelle Bundesrecht kostenlos bereit. Bislang war eine Auswahl von etwa 750 Gesetzen und Verordnungen abrufbar, ab sofort sind auf den Webseiten rund 5.000 Gesetze und Rechtsverordnungen des Bundes in der aktuell geltenden Fassung barrierefrei verfügbar“, sagte Zypries.

    Das Angebot www.gesetze-im-internet.de ergänzt die E-Government-Initiative BundOnline 2005 der Bundesregierung im Bereich der Rechtsinformation. BundOnline 2005 ist ein wichtiger Bestandteil der Verwaltungsmodernisierung. Nach einer umfassenden Bestandsaufnahme hatte die rot-grüne Bundesregierung am 14. November 2001 einen konkreten Umsetzungsplan für das gesamte Dienstleistungsspektrum der Bundesverwaltung beschlossen. BundOnline 2005 ist eines der erfolgreichsten IT-Projekte der Bundesverwaltung und hat sein für Ende 2005 avisiertes Ziel deutlich früher als geplant erreicht. Schon seit Ende August 2005 können über 376 Dienstleistungen der Bundesbehörden im Internet genutzt werden.

    „Dank BundOnline 2005 können Bürger und Wirtschaft die Dienstleistungen der Bundesverwaltung einfacher, schneller und kostengünstiger in Anspruch nehmen und seit heute gibt es das komplette Bundesrecht online dazu“, sagte Zypries.

    BGH: DM-Postwertzeichen

    Nr. 137/2005
    Umtauschfrist für Pfennig- und DM-Briefmarken wirksam

    Der XI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofes hat entschieden, dass die Deutsche Post AG den Umtausch so genannter Pfennig- und DM-Briefmarken gegen neue Euro-Marken wirksam bis zum 30. Juni 2003 befristet hat.
    Anlässlich der Währungsumstellung von Deutsche Mark auf Euro Anfang 2002 erklärte das Bundesministerium für Finanzen gemäß § 43 Abs. 1 PostG, dass Postwertzeichen, deren Nennwert ausschließlich in Pfennig angegeben ist, mit Wirkung vom 1. Juli 2002 ihre Gültigkeit verlieren. Die beklagte Deutsche Post AG bot den Umtausch solcher Briefmarken bis zum 30. Juni 2003 öffentlich an. Der Kläger, ein Briefmarkenhändler, tauschte bis zu diesem Zeitpunkt Marken im Gesamtnennwert von über 300.000 DM. Auch im Juli 2003 eingereichte Marken akzeptierte die Beklagte aus Kulanz. Daraufhin erwarb der Kläger große Stückzahlen ungültiger Briefmarken weit unter Nennwert und forderte von der Beklagten im November 2003 erfolglos deren Umtausch im Nennwert von 95.000 DM. Das Landgericht hat seiner Klage auf Umtausch der Marken stattgegeben, das Berufungsgericht hat sie abgewiesen.
    Der Bundesgerichtshof hat die vom Berufungsgericht zugelassene Revision zurückgewiesen. Briefmarken sind als so genannte kleine Inhaberpapiere im Sinne des § 807 BGB anzusehen. Der in den Pfennig- und DM-Marken verkörperte Beförderungsanspruch ist wegen der durch die Ungültigerklärung entfallenen Legitimationswirkung nicht mehr durchsetzbar. Damit ist eine für die Parteien nicht vorhersehbare Äquivalenzstörung eingetreten, die weder gesetzlich noch vertraglich geregelt ist. Diese Regelungslücke ist im Wege der ergänzenden Vertragsauslegung zu schließen. Dabei ist darauf abzustellen, was redliche und verständige Parteien bei Kenntnis der Lücke nach dem Vertragszweck und bei sachgemäßer Abwägung der beiderseitigen Interessen nach Treu und Glauben vereinbart hätten. Solche Parteien hätten keine Rückzahlung des von der Post vereinnahmten Kaufpreises der Briefmarken, sondern ein Umtauschrecht der Briefmarkeninhaber vereinbart. Die Befristung dieses Umtauschrechts auf ein Jahr wird durch das Interesse der Deutschen Post AG, nicht längere Zeit mit Fälschungen konfrontiert zu werden und den Aufwand für den Umtausch zeitlich zu begrenzen, gerechtfertigt. Die Postkunden hingegen konnten sich bei der Bevorratung von Briefmarken bereits seit dem Januar 2001 auf die bevorstehende Währungsumstellung einrichten und haben deshalb kein berechtigtes Interesse an einem Umtauschrecht über den 30. Juni 2003 hinaus. Dass die Deutsche Post AG noch im Juli 2003 vorgelegte alte Briefmarken anstandslos umgetauscht hat, hindert sie nicht daran, sich nunmehr auf den Ablauf der Umtauschfrist zu berufen. Da sie bereits im August 2003 einen weiteren Umtausch abgelehnt hatte, durfte der Kläger jedenfalls im November 2003 nicht mehr auf einen nochmaligen Umtausch vertrauen.

    Urteil vom 11. Oktober 2005 XI ZR 395/04
    Landgericht Bonn, Urteil vom 8. Juni 2004 10 O 93/04
    Oberlandesgericht Köln, Urteil vom 25. November 2004 14 U 15/04
    Karlsruhe, den 12. Oktober 2005

    22 November 2005

    BGH: Pressefreiheit und Tatsachenverschweigung

    Nr. 163/2005
    Bewusst unvollständige Berichterstattung rechtfertigt Unterlassungsanspruch

    Die Kläger, ein katholisches Erzbistum, dessen Kardinal sowie ein Prälat, verlangen vom Beklagten, einem Journalisten, Unterlassung von angeblichen versteckten Tatsachenbehauptungen in mehreren Presseveröffentlichungen aus dem Jahre 1996. Sie behaupten, der Beklagte habe verdeckt die unrichtigen Behauptungen aufgestellt, ihnen sei es möglich gewesen, den Schwangerschaftsabbruch einer angeblich von einem Pfarrer geschwängerten Minderjährigen zu verhindern und den Pfarrer, der die sexuelle Beziehung zu der Minderjährigen angeblich erpresst habe, aus seinem Amt zu entfernen.
    Das Landgericht sowie das Oberlandesgericht hatten der Klage weitgehend stattgegeben und das Bestehen der verdeckten Tatsachenbehauptungen bejaht. Das Bundesverfassungsgericht hat das Urteil des Oberlandesgerichts wegen Verstoßes gegen das Verhältnismäßigkeitsprinzip aufgehoben und die Sache zur neuen Verhandlung zurückverwiesen. Das Berufungsgericht hat der Klage daraufhin erneut mit weniger weit gehendem Verbotsumfang stattgegeben und die Revision zugelassen.
    Der u. a. bei Verletzungen des Persönlichkeitsrechts zuständige VI. Zivilsenat hat das Urteil des Berufungsgerichts im Ergebnis bestätigt. Dabei hat er offen gelassen, ob die beanstandeten Beiträge tatsächlich verdeckte Tatsachenbehauptungen enthalten; denn jedenfalls hat der Beklagte durch die bewusste Unterschlagung der Information, dass den Klägern weder der Name der Minderjährigen noch der des Pfarrers bekannt war, gegen den Grundsatz vollständiger Berichterstattung verstoßen. Gerade wenn der Beklagte die Leser zu kritischer Auseinandersetzung mit dem seiner Ansicht nach angreifbaren Verhalten der Kläger in der fraglichen Situation anhalten möchte, muss er sicherstellen, dass den Lesern auch alle wesentlichen Informationen zur Verfügung gestellt werden. Da aufgrund dieses Versäumnisses die in den Beiträgen mitgeteilten Tatsachen falsch (weil unvollständig) waren, stand den Klägern ein Unterlassungsanspruch zu. Der Beklagte darf deshalb über den Vorfall nur mit dem klarstellenden Hinweis berichten, dass den Klägern die Namen von Opfer und Täter nicht bekannt waren.

    Urteil vom 22. November 2005 - VI ZR 204/04

    11 November 2005

    BGH zu Pyramidenspielen

    Nr. 159/2005

    Rückzahlung von im Rahmen eines" Schenkkreises" gezahltem Geld

    Der Kläger verlangte in den beiden Verfahren die Rückerstattung von Beträgen, die er im Zuge der Teilnahme an einem sogenannten "Schenkkreis" an die Beklagten gezahlt hat.

    Die "Schenkkreise" waren nach Art einer Pyramide organisiert. Die an der Spitze stehenden Mitglieder des "Empfängerkreises" erhielten von ihnen nachgeordneten "Geberkreisen" bestimmte Geldbeträge. Darauf schieden die "Beschenkten" aus dem "Spiel" aus; an ihre Stelle traten die Mitglieder der nächsten Ebene, die nunmehr die Empfängerposition einnahmen. Es galt dann, genügend Teilnehmer für neu zu bildende "Geberkreise" zu finden, die bereit waren, den festgelegten Betrag an die in den "Empfängerkreis" aufgerückten Personen zu zahlen. Die Anwerbung war Sache der auf der untersten Reihe verbliebenen "Mitspieler".

    In Kenntnis des vorbeschriebenen Systems trat der Kläger in einen "Geberkreis" ein und zahlte an die Beklagten, die mit anderen den "Empfängerkreis" besetzt hatten, jeweils 1.250 €. Er wollte weiter im Spiel bleiben und selbst später "Beschenkter" werden.

    Amtsgericht und Berufungsgericht haben dem Kläger die jeweils eingeklagten 1.250 € nebst Zinsen und Auslagen zugesprochen. Mit der von dem Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgten die Beklagten ihren Antrag, die Klage abzuweisen, weiter.

    Der III. Zivilsenat hat die Revisionen zurückgewiesen.

    Nach Auffassung des III. Zivilsenats kann der Kläger von den Beklagten die gezahlten Beträge zurückfordern. Denn er hat sie ohne rechtlichen Grund gezahlt. Die Vereinbarung des "Schenkkreises" war, da auf ein Schneeballsystem gerichtet, sittenwidrig und damit nichtig (§ 138 Abs. 1 BGB).

    Der Bereicherungsanspruch scheiterte entgegen der Annahme der Revision auch nicht an § 817 Satz 2 BGB. Die Vorschrift bestimmt, dass eine Rückforderung ausgeschlossen ist, wenn dem Leistenden gleichfalls ein Gesetz- oder Sittenverstoß zur Last fällt.

    Diesbezüglich hatte das Berufungsgericht ausgeführt, es spreche zwar einiges dafür, dass der Kläger sich der Sittenwidrigkeit der Spielanlage bewusst gewesen sei oder sich zumindest dieser Einsicht leichtfertig verschlossen habe. Mit der Zahlung an die Beklagte habe er indes nicht unmittelbar sittenwidrige Ziele verfolgt; er sei in dieser Phase des "Spiels" passiv gewesen. Ob diese Erwägung zutrifft, konnte der III. Zivilsenat offenlassen. Dem Berufungsgericht war jedenfalls darin beizutreten, dass der Grund und Schutzzweck der Nichtigkeitssanktion (§ 138 Abs. 1 BGB) hier ausnahmsweise - gegen eine Kondiktionssperre gemäß § 817 Satz 2 BGB spricht. Die in dem Streitfall zu beurteilenden, nach dem Schneeballsystem organisierten "Schenkkreise" waren anstößig (§ 138 Abs. 1 BGB), weil die große Masse der Teilnehmer im Gegensatz zu den initiierenden "Mitspielern", die (meist) sichere Gewinne erzielten - zwangsläufig keinen Gewinn machte, sondern lediglich ihren "Einsatz" verlor. Das "Spiel" zielte allein darauf ab, zugunsten einiger weniger "Mitspieler" leichtgläubige und unerfahrene Personen auszunutzen und sie zur Zahlung des "Einsatzes" zu bewegen. Einem solchen sittenwidrigen Verhalten steuert § 138 Abs. 1 BGB, indem er für entsprechende Vereinbarungen Nichtigkeit anordnet. Das würde aber im Ergebnis konterkariert und die Initiatoren solcher "Spiele" zum Weitermachen geradezu einladen, wenn sie die mit sittenwidrigen Methoden erlangten Gelder ungeachtet der Nichtigkeit der das "Spiel" tragenden Abreden - behalten dürften.

    Der vorbeschriebenen, § 817 Satz 2 BGB einschränkenden Wertung steht nicht entgegen, dass das aufgrund eines Spiels Geleistete gemäß § 762 Abs. 1 Satz 2 BGB nicht zurückgefordert werden kann. Diese Vorschrift greift nur dann Platz, wenn die Rückforderung auf den Spielcharakter gestützt wird. Ist die "Spielvereinbarung" wie hier - gemäß § 138 Abs. 1 BGB nichtig, gelten die allgemeinen Regeln, d.h. die Rückforderung wegen ungerechtfertigter Bereicherung ist zulässig.

    Urteile vom 10. November 2005 - III ZR 72/05 und III ZR 73/05

    Amtsgericht Altenkirchen(Westerwald) – Entscheidung vom 23.9.2004 – 71 C 304/04 ./.

    Landgericht Koblenz – Entscheidung vom 16.3.2005 – 12 S 270/04

    Amtsgericht Altenkirchen (Westerwald) – Entscheidung vom 23.9.2004 – 71 C 303/04 ./.

    Landgericht Koblenz – Entscheidung vom 16.3.2005 – 12 S 276/04

    Karlsruhe, den 11. November 2005

    Pressestelle des Bundesgerichtshof
    76125 Karlsruhe
    Telefon (0721) 159-5013
    Telefax (0721) 159-5501


  • Diskussionen
  • 09 November 2005

    BGH: Eigenbedarfskündigung

    Nr. 155/2005
    Berücksichtigung des Wegfalls des Eigenbedarfsgrundes nach einer auf Eigenbedarf gestützten Kündigung eines Wohnraummietverhältnisses

    Der u. a. für das Wohnraummietrecht zuständige VIII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofes hatte die Frage zu entscheiden, ob und unter welchen Voraussetzungen ein Vermieter, der ein Wohnraummietverhältnis wegen Eigenbedarfs (§ 573 Abs. 2 Nr. 2 BGB) gekündigt hat, verpflichtet ist, einen nachträglichen Wegfall des Eigenbedarfsgrundes zu berücksichtigen und den Mieter hierüber zu unterrichten. Diese Frage war bisher in Rechtsprechung und Schrifttum umstritten.
    Gegenstand des Rechtsstreits war die Schadensersatzklage einer Mieterin, die von dem Beklagten eine Wohnung gemietet hatte. Im November 1999 kündigte der Beklagte das Mietverhältnis wegen Eigenbedarfs. Zur Begründung gab er an, er benötige die Wohnung für seine Schwiegermutter. Die Klägerin widersprach der Kündigung. Im anschließenden Räumungsprozess wurde sie in zwei Instanzen zur Räumung der Wohnung verurteilt. In seinem Urteil vom 5. April 2001 gewährte das Landgericht der Klägerin (damalige Beklagte) eine Räumungsfrist bis zum 31. Juli 2001.
    Am 25. Juni 2001 starb die Schwiegermutter des Beklagten. Ende September 2001 räumte die Klägerin die Wohnung. Nachdem sie einige Zeit später vom Tod der Schwiegermutter des Beklagten Kenntnis erlangt hatte, verlangte sie von ihm Ersatz ihrer Kosten für den Umzug und für die Anmietung von Lagerflächen. Ihre Forderung begründete sie damit, der Beklagte sei verpflichtet gewesen, sie über den Tod seiner Schwiegermutter und den dadurch bedingten Wegfall des Eigenbedarfs vor ihrem Auszug zu informieren; da er diese Pflicht verletzt habe, sei er ihr zum Schadensersatz verpflichtet.
    Das Amtsgericht hat die Klage abgewiesen. Auf die Berufung der Klägerin hat das Landgericht das erstinstanzliche Urteil aufgehoben und den Klageanspruch dem Grunde nach für gerechtfertigt erklärt; zugleich hat es wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Sache die Revision zugelassen. Das Landgericht hat seine Entscheidung vor allem darauf gestützt, in Fällen der vorliegenden Art sei der Vermieter auf Grund einer nachvertraglichen Treuepflicht gehalten, den Mieter auf den nachträglichen Wegfall des Eigenbedarfsgrundes hinzuweisen, um ihm einen Wohnungswechsel zu ersparen. Diese Verpflichtung ende bei Gewährung einer gerichtlichen Räumungsfrist erst mit dem Auszug des Mieters.
    Auf die Revision des Beklagten hat der Bundesgerichtshof das Berufungsurteil aufgehoben und das klageabweisende erstinstanzliche Urteil wiederhergestellt. In Anknüpfung an sein Urteil vom 9. Juli 2003 (VIII ZR 311/02, NJW 2003, 2604) hat der VIII. Zivilsenat ausgesprochen, dass eine zunächst wegen Eigenbedarfs wirksam erklärte Kündigung des Vermieters infolge Rechtsmissbrauchs unwirksam wird, wenn der Eigenbedarf des Vermieters vor Ablauf der Kündigungsfrist entfällt. Dabei hat der Senat darauf abgestellt, dass eine wirksame Kündigung das Mietverhältnis zu diesem Zeitpunkt beendet. Von da an erlangt die Verfügungsbefugnis des Vermieters, in aller Regel des Eigentümers der Wohnung, wieder ihren vollen, von der Verfassung in Art. 14 GG garantierten Umfang; der Mieter kann sich nach der Beendigung des Mietverhältnisses nicht mehr auf den eigentumsgleichen Rang seines auf dem Mietvertrag beruhenden Rechtes zum Besitz der Wohnung (vgl. BVerfGE 89, 1) berufen. Eine nachvertragliche Treuepflicht als Grundlage für eine Verpflichtung des Vermieters, den Mieter von dem Wegfall des Eigenbedarfs zu unterrichten, um ihm einen Verbleib in der Wohnung zu ermöglichen, besteht daher nicht. Dies ist auch von Verfassungs wegen nicht geboten (vgl. BVerfG, NJW-RR 2003, 1164).
    Schließlich hat der Bundesgerichtshof darauf hingewiesen, dass die Berücksichtigung eines erst nach dem Ende des Mietverhältnisses eingetretenen Wegfalls des Eigenbedarfs zu einer ungerechtfertigten Besserstellung des vertragsuntreuen gegenüber dem vertragstreuen Mieter führen würde. Der Mieter, der trotz wirksamer Kündigung die Wohnung pflichtwidrig nicht zum Ablauf der Kündigungsfrist an den Vermieter zurückgibt, würde nämlich aus einem Wegfall des Eigenbedarfs nach Beendigung des Mietverhältnisses ein Recht zur Fortsetzung des Mietverhältnisses herleiten können, was dem vertragstreuen Mieter, der die Wohnung rechtzeitig geräumt hat, nicht möglich wäre.

    Urteil vom 9. November 2005 VIII ZR 339/04
    Amtsgericht Hamburg - Entscheidung vom 15. Juli 2004 - 40a C 610/03 -
    Landgericht Hamburg - Entscheidung vom 2. Dezember 2004 - 334 S 50/04
    Karlsruhe, den 9. November 2005

    12 Oktober 2005

    Aktive Sterbehilfe?

    Eine vom STERN in Auftrag gegebene Meinungsumfrage zum Thema des § 216 StGB ergab, dass 74 % den Ärzten die Verabreichung eines tödlichen Medikamentes erlauben möchten, wenn Schwerstkranke danach verlangen.
    Nur 20 % der 1004 Befragten lehnen die aktive Sterbehilfe vollständig ab. Mit 6 % ist die Zahl der Unentschiedenen sehr gering.

    Archiv
    www.inidia.de/sterbehilfe.htm
    www.inidia.de/stgb_216_toetung_auf_verlangen.htm
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    >> Leserumfrage

    06 Oktober 2005

    BGH: Fotografen-Rechte

    Nr. 134/2005
    Schadensersatz für den unerlaubten Abdruck von Pressefotos in einer Tageszeitung

    Der u. a. für das Urheberrecht zuständige I. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hatte über die Frage zu entscheiden, wie der Schadensersatzanspruch für den unerlaubten Abdruck von Fotos in einer Tageszeitung zu bemessen ist.
    Der klagende freiberufliche Fotograf hat einer Tageszeitung (Beklagte zu 1) gegen Entgelt eine Vielzahl von Pressefotos zum Abdruck zur Verfügung gestellt. Insgesamt 43 dieser Fotos wurden von der Beklagten zu 1 an eine andere, rechtlich selbständige Tageszeitung (Beklagte zu 2) ohne Genehmigung des Klägers zum Abdruck weitergegeben. Die Beklagten sind deshalb rechtskräftig zur Zahlung von Schadensersatz verurteilt worden. Sie haben daraufhin für den zweiten Abdruck jeweils 8 DM pro Foto bezahlt. Der Kläger verlangt weitere 2.418,55 € als Schadensersatz.
    Das Amtsgericht hat die Klage abgewiesen. Das Berufungsgericht hat ihr stattgegeben. Nach Ansicht des Berufungsgerichts ist der Schadensersatzanspruch allein danach zu bemessen, zu welchen angemessenen Bedingungen üblicherweise der Abdruck in einer Zeitung mit der Auflage der zweiten Tageszeitung gestattet worden wäre. Darauf, welche Verbindungen hier zwischen den beiden Tageszeitungen bestünden, komme es nicht an. Bei der Bemessung der Höhe des Schadensersatzanspruchs seien die Honorarsätze zugrunde zu legen, die von der Mittelstandsgemeinschaft Foto-Marketing (MFM) empfohlen würden. Die MFM-Empfehlungen enthielten eine Zusammenstellung der marktüblichen Honorare und gäben die Verkehrssitte zwischen Bildagenturen und freien Fotografen auf der einen und Verwertern auf der anderen Seite wieder.
    Die Beklagten haben mit ihrer – vom Berufungsgericht zugelassenen – Revision geltend gemacht, das Berufungsgericht habe zu Unrecht nicht berücksichtigt, dass für die beteiligten Zeitungen ein Mantellieferungsvertrag über wesentliche Teile der Tageszeitung geschlossen worden sei. Die übernommenen Fotos seien Teil der Mantellieferungen gewesen. Als Vergütung für den Zweitabdruck sei deshalb das Honorar zu zahlen, das angesichts der Gesamtauflage beider Zeitungen tatsächlich üblich und angemessen gewesen sei. Die MFM-Empfehlungen seien lediglich Äußerungen eines Interessenverbands.
    Der Bundesgerichtshof hat die Sache an das Berufungsgericht zurückverwiesen. Die angemessene Vergütung werde üblicherweise nach den gesamten Umständen bemessen. Dazu könne hier gehören, dass die beteiligten Zeitungen zeitgleich in derselben Region verbreitet werden. Ebenso könne von Bedeutung sein, ob die Fotos Teil von Mantellieferungen gewesen seien. Es könne nicht ohne weiteres angenommen werden, dass die MFM-Empfehlungen in der fraglichen Zeit die angemessene und übliche Vergütung wiedergegeben hätten. Mangels eigener Sachkunde hätte das Berufungsgericht davon nicht ohne sachverständige Hilfe ausgehen dürfen.
    Urteile vom 6. Oktober 2005 – I ZR 266/02 und I ZR 267/02
    Amtsgericht Charlottenburg, Entscheidungen vom 28.2.2002 – 227 C 293/01 und vom 7.3.2002 – 210 C 583/01
    Landgericht Berlin, Entscheidungen vom 27.8.2002 – 16 S 4/02 und 20.8.2002 – 16 S 5/02
    Karlsruhe, den 6. Oktober 2005

    01 Oktober 2005

    Überlange Untersuchungshaft verfassungswidrig

    Karlsruhe (Deutschland), 01.10.2005 – Acht Jahre Untersuchungshaft sind zuviel. Das geht aus einem gestern veröffentlichten Urteil des Bundesverfassungsgericht hervor. Damit war die Verfassungsbeschwerde eines Angeklagten, der sich seit acht Jahren wegen des Verdachts des Herbeiführens einer Sprengstoffexplosion mit sechsfachem Mord und zweifachem Mordversuch in Untersuchungshaft befindet, erfolgreich.

    Der Zweite Senat befand: „Es kann in einem Rechtsstaat nicht hingenommen werden, dass die Strafverfolgungsbehörden und Gerichte nach acht Jahren Untersuchungshaft nicht mehr in Händen halten als einen dringenden Tatverdacht.“ Die vermeidbaren Verzögerungen in dem seit acht Jahren dauernden Verfahren seien von Ermittlern und Gerichten zu verantworten und könnten nicht zu seinen Lasten gehen, urteilten die Richter.

    Der Beschwerdeführer befindet sich seit dem 2. August 1997 in Untersuchungshaft. Ihm liegt zur Last, im Juli 1997 vorsätzlich eine Gasexplosion herbeigeführt zu haben, die das dem Beschwerdeführer gehörende Mietwohnhaus vollständig zerstörte, sechs Hausbewohner tötete und zwei weitere schwer verletzte. Nach einer Verfahrensdauer von über vier Jahren verurteilte ihn das Landgericht am 16. August 2001 wegen Herbeiführens einer Sprengstoffexplosion mit Todesfolge mit sechsfachem Mord und zweifachem Mordversuch zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe. Gleichzeitig wurde ausgesprochen, dass die Schuld des Beschwerdeführers besonders schwer wiege.

    Gegen dieses Urteil legte der Beschwerdeführer Revision ein. Mit Urteil vom 24. Juli 2003 hob der Bundesgerichtshof das Urteil des Landgerichts wegen eines Verstoßes gegen das Verfahrensrecht auf und verwies die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landgericht zurück. Die neue Hauptverhandlung gegen den Beschwerdeführer hat am 6. Februar 2004 begonnen und dauert an.

    Der Antrag des Beschwerdeführers, den Haftbefehl außer Vollzug zu setzen, blieb vor Landgericht und Oberlandesgericht ohne Erfolg. +wikinews+