29 Juli 2005

OLG: Kein Schadensersatz für NATO-Opfer

OLG Köln entscheidet über die Berufung der Opfer eines NATO-Luftangriffs auf die serbische Kleinstadt Varvarin

Im Rechtsstreit zwischen den Opfern eines NATO-Luftangriffs auf die serbische Kleinstadt Varvarin und der Bundesrepublik Deutschland hat das OLG Köln mit heute verkündetem Urteil die Berufung der Kläger gegen das klageabweisende Urteil des LG Bonn zurückgewiesen (OLG Köln, Urteil v. 28.07.2005 - 7 U 8/04, nicht rechtskräftig).

Die Kläger, insgesamt 35 Personen, sind die Opfer bzw. die Angehörigen von Opfern eines Luftangriffs von Kampfflugzeugen der NATO, durch den am 30.05.1999 die Brücke in der serbischen Kleinstadt Varvarin zerstört wurde. Hierbei wurden 10 Menschen getötet und insgesamt 30 verletzt, davon 17 schwer; alle Opfer waren Zivilpersonen.

Der Luftangriff erfolgte auf der Grundlage eines Beschlusses der NATO-Mitgliedsstaaten zur Durchführung von Luftoperationen gegen die Bundesrepublik Jugoslawien im Rahmen des damaligen Kosovo-Konflikts. Unstreitig waren deutsche Flugzeuge an dem Raketenangriff auf die Brücke nicht unmittelbar beteiligt.
Ob und inwieweit sie durch Aufklärung, Begleit- oder Luftraumschutz Unterstützungsleistungen erbrachten, ist zwischen den Parteien streitig.

Die Kläger nehmen die beklagte Bundesrepublik auf Zahlung von Geldentschädigungen in Anspruch, wobei sie einzeln jeweils Mindestbeträge zwischen 5.000 und gut 102.000 Euro, insgesamt mindestens über 535.000 Euro, fordern. Sie machen im Wesentlichen geltend, die Beklagte hafte für die Folgen des - nach Ansicht der Kläger völkerrechtswidrigen und kriegsverbrecherischen - NATO-Angriffs, weil sie ein ihr - wie die Kläger behaupten - im Rahmen der NATO-Gremien zustehendes Vetorecht gegen die Auswahl der Brücke als Angriffsziel nicht ausgeübt und zudem den Angriff durch eigene Streitkräfte unterstützt habe.

Das LG Bonn hat mit Urteil vom 10.12.2003 (1 O 361/02) die Klage abgewiesen. Die hiergegen gerichtete Berufung der Kläger hatte keinen Erfolg. Der zuständige Berufungssenat des OLG Köln hat zur Begründung seiner Entscheidung ausgeführt, die Klageansprüche fänden weder im humanitären Völkerrecht noch unmittelbar in den Grundrechten des Grundgesetzes noch im deutschen Staatshaftungsrecht eine hinreichende Stütze:

Ersatzansprüche aufgrund des humanitären Völkerrechts - insoweit sind hier vor allem Bestimmungen der sog. Haager Landkriegsordnung aus dem Jahre 1907 sowie des Zusatzprotokolls I zu den Genfer Abkommen aus dem Jahre 1949 betroffen - könnten die Kläger nicht erfolgreich in eigener Person geltend machen. Nach herrschender, zuletzt im Jahre 2004 vom BVerfG bestätigter Rechtsauffassung sehe die traditionelle Konzeption des Völkerrechts als eines zwischenstaatlichen Rechts den einzelnen Staatsbürger nicht als Völkerrechtssubjekt an, sondern gewähre ihm nur mittelbaren Schutz:

Bei völkerrechtlichen Delikten durch Handlungen gegenüber fremden Staatsbürgern stehe ein Anspruch nicht dem Betroffenen selbst, sondern nur seinem Heimatstaat zu. Lediglich der Staat könne daher im Wege des diplomatischen Schutzes sein eigenes Recht darauf geltend machen, dass das Völkerrecht in der Person seines Staatsangehörigen beachtet werde. Unmittelbare Ansprüche der Kläger persönlich aus humanitärem Völkerrecht bestünden dagegen nicht.

Entschädigungsansprüche könnten ferner auch nicht unmittelbar aus den Grundrechten hergeleitet werden. Diese seien nach allgemeiner Auffassung selbst keine Anspruchsgrundlagen, sondern in erster Linie Schutz- und Abwehrrechte gegen den Staat. Es bedürfe vielmehr auch bei Grundrechtsverletzungen stets einer konkreten Anspruchsnorm, in deren Ausgestaltung sodann grundrechtliche Wertungen einfließen könnten.

Schließlich stünden den Klägern im Ergebnis auch keine Ersatzansprüche aus dem zivilrechtlichen (deutschen) Amtshaftungsrecht zu.
Allerdings seien derartige individuelle zivilrechtliche Ansprüche geschädigter Personen neben einem - etwaigen - völkerrechtlichen Anspruch ihres Heimatstaats nicht grundsätzlich ausgeschlossen. Die Anwendung des Amtshaftungsrechts scheide vorliegend auch nicht etwa deshalb generell aus, weil das streitige Geschehen sich im Rahmen einer bewaffneten zwischenstaatlichen Auseinandersetzung ereignet habe. Zwar seien nach dem Verständnis des deutschen Amtshaftungsrechts in der Zeit bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs dem Staat zurechenbare militärische Handlungen vom - damaligen - Amtshaftungstatbestand ausgenommen gewesen (vgl. dazu das "Distomo"-Urteil des BGH vom 26.06.2003 zu einem Vorfall aus 1944). Dieses Verständnis sei aber für derartige Auseinandersetzungen in der Gegenwart überholt und auf der Grundlage des heutigen deutschen Amtshaftungsrechts im Lichte der Werteordnung des Grundgesetzes und der Weiterentwicklungen im internationalen Recht nicht mehr zu rechtfertigen.
Gleichwohl verhelfe dies der Klage letztlich nicht zum Erfolg. Völkerrechtswidrige, kriegsverbrecherische Handlungen, die sich staatshaftungsrechtlich als Amtsmissbrauch seitens der Bundesrepublik darstellten oder sonstige ihr haftungsrechtlich zurechenbare Handlungen seien nämlich nicht feststellbar:
Hierbei könne dahin stehen, ob tatsächlich deutsche Flugzeuge unterstützend in den streitigen Luftangriff eingebunden gewesen und ob die konkreten Umstände dieses Angriffs völkerrechtswidrig oder gar kriegsverbrecherisch gewesen seien. Dass die beklagte Bundesrepublik, eine unterstützende Einbindung in den Angriff zugunsten der Kläger unterstellt, über das konkrete Angriffsziel oder über Umstände und Form des Angriffs informiert gewesen sei, werde von den Klägern nicht behauptet und sei auch nach dem innerhalb der NATO geltenden Grundsatz des "need to know" - wonach jeder Mitgliedsstaat hinsichtlich der einzelnen Luftoperationen nur über die zur Wahrnehmung seiner eigenen Aufgaben nötigen Kenntnisse habe verfügen müssen - nicht ersichtlich. Jedenfalls mangels Kenntnis bzw. schuldhafter Unkenntnis einer etwaigen Vorwerfbarkeit der konkreten Ausführung des Angriffs auf Seiten der Bundesrepublik scheide daher eine Zurechnung der Angriffsfolgen aus. Im Kern nichts anderes gelte hinsichtlich der Aufnahme der Brücke in die Ziellisten der NATO bzw. der Nichtausübung eines etwaigen Vetorechts.
Dass allein schon die Aufnahme der Brücke in die Listen als solche offensichtlich völkerrechtswidrig gewesen sei, lasse sich nicht feststellen. Von den Klägern werde auch nicht vorgetragen, dass die konkreten Umstände eines künftigen Angriffs schon bei der Zielauswahl überhaupt in Rede gestanden hätten; dagegen spreche überdies das Prinzip des "need to know". Die Beklagte habe deshalb, ihre Kenntnis von der Aufnahme in die Ziellisten bzw. die Nichtausübung eines etwaigen Vetorechts unterstellt, darauf vertrauen können, dass ein möglicher künftiger Angriff in Übereinstimmung mit dem Völkerrecht erfolgen werde.

Das Urteil des OLG Köln ist nicht rechtskräftig. Der Berufungssenat hat mit Rücksicht darauf, dass über die Frage der Anwendbarkeit des heute geltenden Amtshaftungsrechts auf Handlungen im Rahmen bewaffneter Auseinandersetzungen höchstrichterlich noch nicht entschieden wurde, die Revision zum Bundesgerichtshof zugelassen.

Rüdiger Pamp
Dezernent für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit

27 Juli 2005

BVerfG: Regelungen des Niedersächsischen Polizeigesetzes

Die Regelungen des § 33a Abs. 1 Nr. 2 und 3 des Niedersächsischen
Gesetzes über die öffentliche Sicherheit und Ordnung (Nds.SOG), die die
Polizei zur Telekommunikationsüberwachung zum Zwecke der Verhütung und
der Vorsorge für die Verfolgung von Straftaten ermächtigen, sind wegen
Verstoßes gegen das Fernmeldegeheimnis (Art. 10 Abs. 1 GG) nichtig. Dies
entschied der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts mit Urteil vom
27. Juli 2005. Der Niedersächsische Gesetzgeber habe teilweise seine
Gesetzgebungskompetenz überschritten. Da der Bundesgesetzgeber die
Verfolgung von Straftaten durch Maßnahmen der
Telekommunikationsüberwachung in der Strafprozessordnung abschließend
geregelt habe, seien die Länder insoweit von der Gesetzgebung
ausgeschlossen. Zudem sei die gesetzliche Ermächtigung insgesamt nicht
hinreichend bestimmt und genüge nicht den Anforderungen des
Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes. Ferner fehlten im Gesetz Vorkehrungen
zum Schutz des Kernbereichs privater Lebensgestaltung.

Damit war die Verfassungsbeschwerde eines Richters, der sich durch die
angegriffenen Regelungen in seinem Fernmeldegeheimnis verletzt sah,
erfolgreich (weitere Sachverhaltsinformationen finden Sie in der
Pressemitteilung Nr. 10/2005 vom 28. Januar 2005).

Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zu Grunde:

1. Die angegriffenen Regelungen sind formell verfassungswidrig

a) Im Änderungsgesetz fehlt der nach Art. 19 Abs. 1 Satz 2 GG
(Zitiergebot) erforderliche Hinweis auf die Einschränkung des Art. 10
Abs. 1 GG (Fernmeldegeheimnis). Die Nichtbeachtung des Zitiergebots
bleibt für die Wirksamkeit des angegriffenen Gesetzes aber ohne
Konsequenzen.

b) Der niedersächsische Gesetzgeber hat seine Gesetzgebungskompetenz
durch die Regelungen über die Vorsorge für die Verfolgung von Straftaten
überschritten.
Die Telekommunikationsüberwachung ist nicht auf die Verhütung von
Straftaten beschränkt, sondern sieht in § 33a Abs. 1 Nr. 2 und 3 Nds.SOG
auch die „Vorsorge für die Verfolgung von Straftaten“ als eigenständiges
Tatbestandsmerkmal vor. Die Daten werden also zur Verwertung in einem
künftigen Strafverfahren und damit zur Strafverfolgung erhoben. Eine
solche Verfolgungsvorsorge gehört zum gerichtlichen Verfahren im Sinne
des Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG und daher zur konkurrierenden Gesetzgebung.

Von der konkurrierenden Gesetzgebung zur Strafverfolgung hat der
Bundesgesetzgeber im Bereich der Telekommunikationsüberwachung
abschließend Gebrauch gemacht und sich dabei gegen zusätzliche, in das
erweiterte Vorfeld einer Straftat vorgelagerte Maßnahmen entschieden.
Dem Erfordernis eines frühzeitigen Einsatzes der
Telekommunikationsüberwachung hat der Bundesgesetzgeber dadurch Rechnung
getragen, dass er die Maßnahmen unter bestimmten Voraussetzungen bereits
im Vorbereitungsstadium zulässt. Die gezielten Eingrenzungen könnten
hinfällig werden, wenn die Länder vergleichbare Maßnahmen zur
Telekommunikationsüberwachung ebenfalls mit dem Ziel der Sicherung
späterer Strafverfolgung unter anderen, etwa geringeren, Voraussetzungen
normieren könnten.

2. Die angegriffenen Normen sind auch in materieller Hinsicht nicht mit
der Verfassung vereinbar.

a) Die weite Ermächtigung des § 33a Abs. 1 Nr. 2 und 3 Nds.SOG zur
Verhütung und zur Vorsorge für die Verfolgung von Straftaten wird dem
Bestimmtheitsgebot nicht gerecht.

Die Telefonüberwachung nach § 33a Abs. 1 Nr. 2 Nds.SOG setzt voraus,
dass Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass jemand in der Zukunft
Straftaten von erheblicher Bedeutung begehen wird. Das Gesetz setzt
nicht einen konkreten, in der Entwicklung begriffenen Vorgang, dessen
Planung oder eine Vorbereitungshandlung voraus. Es genügt die auf
Tatsachen gegründete Annahme, dass jemand Straftaten von erheblicher
Bedeutung begehen wird. Das Gesetz enthält keine einschränkenden
Tatbestandsmerkmale, die die – gerade im Bereich der Vorfeldermittlung
schwierige – Abgrenzung eines harmlosen von dem in eine
Straftatenbegehung mündenden Verhaltens ermöglichen. Die Ausrichtung auf
„Straftaten von erheblicher Bedeutung“ trägt nicht zu einer Präzisierung
bei. Dieses Tatbestandsmerkmal bietet keine Anhaltspunkte dafür, wann
ein Verhalten auf die künftige Begehung solcher Straftaten hindeutet.
Nicht hinreichend bestimmt ist ferner die Regelung in § 33a Abs. 1 Nr. 3
Nds.SOG, die zurÜberwachung der Telekommunikation bei Kontakt- oder
Begleitpersonen ermächtigt. Zu der Unsicherheit, wer als potenzieller
Straftäter in Betracht kommt, tritt hier die Unklarheit, die mit dem
Begriff der Kontakt- oder Begleitperson verbunden ist. Nach der
gesetzlichen Definition ist dies jede Person, die mit dem potentiellen
Straftäter so in Verbindung steht, dass durch sie Hinweise über die
angenommene Straftat gewonnen werden können. Wann dies der Fall ist,
lässt das Gesetz aber offen.

b) Die angegriffenen Normen genügen auch nicht den Anforderungen der
Verhältnismäßigkeit. Die Überwachung der Telekommunikation auf der
Grundlage des § 33a Abs. 1 Nr. 2 und 3 Nds.SOG ermöglicht einen
schwerwiegenden Eingriff in das Fernmeldegeheimnis. Durch die
Datenerhebung lassen sich Einblicke insbesondere in das
Kommunikationsverhalten, das soziale Umfeld sowie persönliche
Gewohnheiten der überwachten Person gewinnen. Einbußen an grundrechtlich
geschützter Freiheit dürfen nicht in unangemessenem Verhältnis zu den
Zwecken stehen, denen die Grundrechtsbeschränkung dient. Die
Datenerhebung hat den legitimen Zweck, Straftaten von erheblicher
Bedeutung zu verfolgen und zu verhüten. Das Gewicht dieses Belanges ist
von dem durch die Norm geschützten Rechtsgut und der Intensität seiner
Gefährdung abhängig. Begnügt sich das Gesetz mit nicht näher
eingegrenzten Tatsachen, die die Annahme einer künftigen Straftat
rechtfertigen, kann der schwere Eingriff in das
Telekommunikationsgeheimnis nur dann als angemessen bewertet werden,
wenn der zu schützende Gemeinwohlbelang allgemein sowie im konkreten
Fall überragend wichtig ist. Eine solche Einengung aber fehlt in dem
Gesetz.

Auch das Tatbestandsmerkmal der „Straftaten von erheblicher Bedeutung“
trägt den Anforderungen an das besondere Gewicht des zu verfolgenden
Rechtsguts nicht Rechnung. Den im Gesetz aufgeführten Straftaten ist
schon kein auf die Besonderheiten der Telekommunikationsüberwachung im
Vorfeld zugeschnittenes gesetzgeberisches Konzept zu entnehmen, das sich
auf den Schutz besonders hochrangiger Rechtsgüter bezieht und
beschränkt. Auch enthält das Gesetz keine abschließende Umschreibung der
Straftaten. Eine einengende Auslegung des Begriffs der Straftaten von
erheblicher Bedeutung ist ausgeschlossen. Das Defizit an Normenklarheit
würde dadurch nur verschärft.
Hinzu kommt, dass § 33a Abs. 1 Nr. 2 und 3 Nds.SOG die für die Prognose
und die Abwägung nutzbaren Tatsachen nicht hinreichend umschreibt. Die
Bestimmtheitsmängel wirken sich auf die Prüfung der Angemessenheit aus.
Denn es fehlt an einem Maßstab für die abwägende Prüfung, ob die
tatsächlichen Anhaltspunkte des Gewichts des gefährdenden Rechtsguts
ausreichen..

c) Schließlich enthält das Gesetz auch keine hinreichenden Vorkehrungen
zur Vermeidung von Eingriffen in den absolut geschützten Kernbereich
privater Lebensgestaltung. Zwar gelten für die
Telekommunikationsüberwachung nicht die für die Wohnraumüberwachung in
dem Urteil des Senats zum Großen Lauschangriff (BVerfGE 109, 279)
dargelegten Anforderungen. Wegen des Risikos, dass die Abhörmaßnahme
Kommunikation aus dem Kernbereich privater Lebensgestaltung erfasst, ist
sie aber allenfalls bei einem besonders hohen Rang des gefährdeten
Rechtsguts und einer hohen Intensität der Gefährdung hinzunehmen. Ferner
müssen konkrete Anhaltspunkte auf einen unmittelbaren Bezug zur
zukünftigen Begehung der Straftat schließen lassen. Erforderlich sind
auch Sicherungen, dass Kommunikationsinhalte des höchstpersönlichen
Bereichs nicht verwertet und dass sie unverzüglich gelöscht werden, wenn
es ausnahmsweise zu ihrer Erhebung gekommen ist. An derartigen
Regelungen aber fehlt es im Gesetz.

Urteil vom 27. Juli 2005 – 1 BvR 668/04 –

Karlsruhe, den 27. Juli 2005

21 Juni 2005

BGH: Grenzen der Kunstfreiheit

Nr. 90/2005
Bundesgerichtshof bestätigt das Verbot des Romans Esra von Maxim Biller

Der unter anderem für Fragen der Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts zuständige VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat das von den Vorinstanzen ausgesprochene Veröffentlichungsverbot des von der Beklagten verlegten Romans Esra von Maxim Biller bestätigt.
Das Buch schildert im wesentlichen die Liebesbeziehung zwischen Esra und dem Ich-Erzähler, dem Schriftsteller Adam. Der erkennende Senat bestätigte die Auffassung der Vorinstanzen, der Inhalt des Romans verletze die Klägerin zu 1, die für ca. 1 ½ Jahre eine intime Beziehung zum Autor des Buches unterhielt, und ihre Mutter, die Klägerin zu 2, in ihrem allgemeinen Persönlichkeitsrecht.
Die durch die Verfassung garantierte Kunstfreiheit (Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG) hatte unter den Umständen des Streitfalls hinter dem gemäß Art. 2 Abs. 1 GG ebenfalls grundrechtlich geschützten allgemeinen Persönlichkeitsrecht der Klägerinnen zurückzutreten. Der Roman greift in schwerwiegender Weise in das allgemeine Persönlichkeitsrecht der Klägerinnen ein. Die Klägerinnen sind nach den tatsächlichen Feststellungen der Vorinstanz in den Romanfiguren Esra und Lale jedenfalls für einen mehr oder minder großen Bekanntenkreis erkennbar. Der Autor hat die Figuren Esra und Lale gegenüber den Klägerinnen, aus deren Leben zahlreiche Details offenbart werden, nur unzureichend verfremdet. Es werden keine Typen dargestellt, sondern Porträts. Vom Autor frei erfundene, überwiegend negative oder bloßstellende, die Privatsphäre verletzende Darstellungen werden vom Leser deshalb mit realen Einzelheiten aus dem Leben der Klägerinnen gleichgesetzt. Dies ist von der Kunstfreiheit nicht gedeckt.

Urteil vom 21. Juni 2005 – VI ZR 122/04
LG München I - 9 O 11360/03 ./. OLG München - 18 U 4890/03
Karlsruhe, den 21. Juni 2005

01 Juni 2005

BGH: Urkundsprozess Mietrückstände

Nr. 81/2005
Klage auf rückständige Wohnraummiete im Urkundenprozeß zulässig

Der unter anderem für das Wohnraummietrecht zuständige VIII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat entschieden, daß der Vermieter von Wohnraum rückständige Miete im Urkundenprozeß geltend machen kann, auch wenn der Mieter Mängel der Wohnung einwendet.

Die Parteien schlossen einen schriftlichen Mietvertrag über eine 4-Zimmer-Wohnung zu einer monatlichen Miete in Höhe von 660 €. Für November 2003 zahlte er unter Berufung auf eine Gegenforderung lediglich 169,80 €. Den Differenzbetrag von 490,20 € hat der Vermieter unter Vorlage des Mietvertrags im Urkundenprozeß eingeklagt. Der Mieter hat demgegenüber Mängel der Wohnung geltend gemacht, die er jedoch nicht mit den im Urkundenprozeß zulässigen Beweismitteln (Urkundenbeweis und Parteivernehmung) belegen konnte. Die Vorinstanzen haben die Klage als im Urkundenprozeß unstatthaft abgewiesen. Auf die Revision des Vermieters hat der Bundesgerichtshof den Mieter zur Zahlung der rückständigen Miete verurteilt und ihm die Ausführung seiner Rechte im Nachverfahren vorbehalten.
Gemäß § 592 Satz 1 ZPO kann ein Anspruch auf Zahlung einer bestimmten Geldsumme im Urkundenprozeß geltend gemacht werden, wenn sämtliche zur Begründung des Anspruchs erforderlichen Tatsachen durch Urkunden bewiesen werden können. Erhebt der Prozeßgegner Einwendungen gegen die Klageforderung, muß er die zugrunde liegenden Tatsachen, soweit sie streitig sind, gemäß § 595 Abs. 2 ZPO durch Urkunden oder durch Parteivernehmung beweisen. Gelingt ihm dies nicht, ist der Klage durch Vorbehaltsurteil zunächst stattzugeben; dem Beklagten ist die Ausführung seiner Rechte vorzubehalten. Im sogenannten Nachverfahren muß sodann mit allen im Zivilprozeß zugelassenen Beweismitteln festgestellt werden, ob die Einwendungen des Beklagten berechtigt sind. Ist dies der Fall, wird das Vorbehaltsurteil aufgehoben und die Klage abgewiesen. Der Kläger ist in diesem Fall auch ohne Verschulden zum Ersatz des Schadens verpflichtet, der dem Beklagten durch die Vollstreckung des Vorbehaltsurteils oder durch eine zur Abwendung der Vollstreckung gemachte Leistung entstanden ist.
Der VIII. Zivilsenat hat entschieden, daß die durch § 592 Satz 1 ZPO grundsätzlich jedem Gläubiger einer Geldschuld eingeräumte Befugnis, im Urkundenprozeß einen vorläufigen Titel gegen den Schuldner zu erlangen, auch dem Vermieter von Wohnraum zusteht, der unter Vorlage des Mietvertrags rückständige Miete geltend macht. Zwar wird nach § 536 Abs. 1 BGB bei Mängeln der Mietsache die geschuldete Miete automatisch von Gesetzes wegen gemindert. Jedoch gehört die Mangelfreiheit der Mietsache nicht zu den zur Begründung des Anspruchs auf Miete erforderlichen Tatsachen. Gemäß § 536 Abs. 1 BGB sind Mängel vom Mieter darzulegen und zu beweisen, wenn er die Mietsache übernommen hat. Der Inanspruchnahme des Urkundenprozesses steht auch nicht entgegen, daß rechtsgeschäftliche Vereinbarungen, die die gesetzlich eintretende Mietminderung zum Nachteil des Mieters ausschließen oder einschränken, bei Wohnraummietverhältnissen gemäß § 536 Abs. 4 BGB unwirksam sind. Zwar hat der Urkundenprozeß zur Folge, daß der Mieter, der die von ihm geltend gemachten Mängel regelmäßig wie auch im zur Entscheidung stehenden Fall nicht mit den im Urkundenprozeß zugelassenen Beweismitteln nachweisen kann, zunächst durch Vorbehaltsurteil zur Zahlung der Miete verurteilt wird und daß erst im Nachverfahren über das Vorliegen von Mängeln und eine sich daraus ergebende Mietminderung entschieden wird. Der Bundesgerichtshof hat jedoch ausgeführt, daß der Mieter den Nachteilen, die ihm durch eine Vollstreckung aus dem Vorbehaltsurteil möglicherweise entstehen, weitgehend durch die Schutzanordnungen der Zivilprozeßordnung begegnen kann und daß er zudem durch eine verschuldensunabhängige Haftung des Vermieters abgesichert ist. Diese Nachteile sind daher im wesentlichen vorläufiger Natur und nicht zu vergleichen mit einer Beeinträchtigung seiner Rechtsstellung, die ihm durch eine nach § 536 Abs. 4 BGB unzulässige rechtsgeschäftliche Vereinbarung droht. Das materielle Mietrecht rechtfertigt es deshalb nicht, die prozessualen Befugnisse des Vermieters aus § 592 Satz 1 ZPO entgegen dem umfassenden Wortlaut der Vorschrift einzuschränken. Der Bundesgerichtshof hat den Rechtsstreit zur Durchführung des Nachverfahrens an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Urteil vom 1. Juni 2005 VIII ZR 216/04
AG Jever 5 C 888/03 ./. LG Oldenburg 10 S 209/04
Karlsruhe, den 1. Juni 2005

22 März 2005

BVerfG: Bildmanipulation u. Persönlichkeitsrecht

Die Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers (Bf), der sich gegen die technisch bearbeitete Abbildung seines Kopfes in einer Zeitschrift wandte, war erfolgreich. Die 1. Kammer des Ersten Senats hob das angegriffene Urteil des Bundesgerichtshofs (BGH) auf, da es den Bf in seinem allgemeinen Persönlichkeitsrecht verletzt. Die Sache wurde an denBGH zurückverwiesen.

Sachverhalt: Der Bf war Vorstandsvorsitzender der Deutschen Telekom AG. Im Jahre 2000 berichtete die Beklagte des Ausgangsverfahrens in einer von ihrverlegten Zeitschrift über die wirtschaftliche Situation der DeutschenTelekom. Sie illustrierte den Artikel mit einer Ablichtung eines Mannes in einem Geschäftsanzug, der auf einem bröckelnden, magentafarbenemgroßen „T“ sitzt. Die fotografische Abbildung des Kopfes des Bf ist imZuge einer Fotomontage auf den Oberkörper eines anderen Mannes gesetztworden. Dabei wurde die Abbildung des Kopfes technisch bearbeitet. DieIntensität dieser Bearbeitung ist von den Gerichten nicht abschließend aufgeklärt worden. Unstreitig ist der Kopf allerdings um ca. 5%gestreckt worden. Der Beschwerdeführer ist trotz der Bearbeitung eindeutig identifizierbar. Er sieht in der Veränderung eineunterschwellige und negative Manipulation seiner Gesichtszüge.

Die in den ersten Instanzen zunächst erfolgreiche Unterlassungsklage desBf wurde vom BGH abgewiesen. Die hiergegen gerichteteVerfassungsbeschwerde hatte Erfolg.Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zu Grunde:Die Meinungsfreiheit umfasst die grafische Umsetzung einer kritischen Aussage eines Zeitschriftenartikels auch durch eine satirisch wirkende Fotomontage. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht schützt aber vor der Verbreitung eines technisch manipulierten Bildes, das den Anscheinerweckt, ein authentisches Abbild einer Person zu sein. Ein solcherEingriff in das Persönlichkeitsrecht wird auch dann nicht durch die Meinungsfreiheit gerechtfertigt, wenn das Bild in einen satirischenKontext gerückt wird.

Das für die Fotomontage benutzte Bild des Kopfes des Bf beansprucht, eine fotografische Abbildung zu sein. Zugleich gibt es - anders als typischerweise eine karikaturhafte Zeichnung - dem Betrachter keinen Anhaltspunkt für die Manipulation der Gesichtszüge. Ein solcher Anhalt folgt auch nicht daraus, dass die übrige Darstellung deutlich erkennbar den Charakter des Fiktiven hat. Für die Abbildung des Kopfes gilt diesgerade nicht.

Fotos suggerieren Authentizität und der Betrachter geht davon aus, dass die abgebildete Person in Wirklichkeit so aussieht. Diese Annahme trifftaber bei einer das Aussehen des Gesichts verändernden Bildmanipulation nicht zu. Das Persönlichkeitsrecht schützt davor, dass einfotografisches Abbild, das Dritten zugänglich gemacht wird, manipulativ entstellt ist. Die Bildaussage wird jedenfalls dann unzutreffend, wenndas Foto über rein reproduktionstechnisch bedingte und für den Aussagegehalt unbedeutende Veränderungen hinaus verändert wird. SolcheManipulationen berühren das Persönlichkeitsrecht, einerlei ob sie inguter oder verletzender Absicht vorgenommen werden oder ob derBetrachter die Veränderung als vorteilhaft oder nachteilig für den Dargestellten bewertet. Die in der bildhaften Darstellung in der Regel mitschwingende Tatsachenbehauptung über das Aussehen des Abgebildetenwird unzutreffend. Eine unrichtige Information ist unter dem Blickwinkel der Meinungsfreiheit aber kein schützenswertes Gut. Dies gilt auch beider Verwendung von fotografischen Abbildungen in satirischen Kontexten, wenn die Manipulation für den Betrachter nicht erkennbar ist und erdaher die Veränderung nicht als Teil der für satirische Darstellungen typischen Verfremdungen und Verzerrungen deuten und damit für seine Meinungsbildung bewertend einordnen kann. Diesen verfassungsrechtlichen Anforderungen genügt die Entscheidung desBGH nicht.

Der BGH stellt maßgeblich darauf ab, dass eine satirischeBildaussage ganzheitlich zu erfassen und das Gesicht des Bf als Bildbestandteil nicht gesondert zu berücksichtigen sei. Dieser Grundsatz ist aber nicht anzuwenden, wenn der manipulierte Teil der Abbildung -wie im konkreten Fall - einen eigenständigen Aussagegehalt hat. Dann bedarf es einer eigenständigen Beurteilung unter dem Aspekt des Persönlichkeitsschutzes. Diese wird der BGH noch vorzunehmen haben.

Beschluss vom 14. Februar 2005 – 1 BvR 240/04 –
Karlsruhe, den 22. März 2005

22 Februar 2005

BVerfG: Pressefreiheit

Die Verfassungsbeschwerde (Vb) eines Zeitschriftenverlages war erfolgreich.

Dieser hatte sich gegen die – im Rahmen einesErmittlungsverfahrens wegen Verdachts der Störung der Totenruhe – gerichtlich angeordnete Durchsuchung seiner Redaktionsräume gewandt.

Die1. Kammer des Ersten Senats hob die angegriffenen Beschlüsse desLandgerichts (LG) auf, da sie die Beschwerdeführerin (Bf) in ihrem Grundrecht der Pressefreiheit verletzen. Die Sache wurde an das LG zurückverwiesen.

Sachverhalt: Ein Journalist der Bf organisierte im Zusammenhang mit der Ausstellung "Körperwelten" ein nächtliches Fotoshooting, bei dem sechs plastinierte Leichen an verschiedenen Orten der Innenstadt in München nachts aufgestellt und fotografiert wurden. Die Bf veröffentlichte einen Artikel mit Darstellung der Fotos in ihrer Zeitschrift. DieStaatsanwaltschaft leitete ein Ermittlungsverfahren wegen Störung derTotenruhe ein und beantragte neben Durchsuchungsbeschlüssen gegen Mitarbeiter der Bf auch die Durchsuchung der Redaktionsräume der Bf.
DieDurchsuchung von Unterlagen und Datenträgern sollte Aufschluss darüber geben, wer die Entscheidung über die Anfertigung der Fotografien getroffen hatte bzw. in die Entscheidung eingebunden war.
Das Amtsgericht (AG) lehnte den Antrag ab. Das LG hob diese Entscheidungauf und erließ den Durchsuchungsbeschluss. Zur Begründung führte es u.a. aus, dass die Durchsuchungen verhältnismäßig seien, da sie nicht zumTatvorwurf außer Verhältnis stünden. In dem von der Bf beantragtenVerfahren der nachträglichen Anhörung bestätigte das LG denD urchsuchungsbeschluss. Die Vb gegen die Durchsuchungsanordnunghinsichtlich der Redaktionsräume hatte Erfolg.

Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zu Grunde:

Die Durchsuchung von Redaktionsräumen stellt wegen der damit verbundenenStörung der Redaktionstätigkeit und der Möglichkeit einereinschüchternden Wirkung eine Beeinträchtigung der Pressefreiheit dar.
Im Rahmen der durch die allgemeinen Gesetze gezogenen Grenzen, zu denen auch die Vorschriften der Strafprozessordnung gehören, ist eine Abwägungzwischen dem Strafverfolgungsinteresse im konkreten Fall und derPressefreiheit vorzunehmen. Dem werden die angegriffenen Beschlüsse nicht gerecht. Denn sie enthalten keine Ausführungen zur Angemessenheit des Eingriffs in diePressefreiheit. Insbesondere fehlt es an einer Abwägung, ob der die Mitarbeiter der Bf treffende Tatvorwurf von einem solchen Gewicht ist, dass er die Durchsuchung auch der Redaktionsräume rechtfertigt.
Ferner wäre das Interesse am Auffinden von Beweismitteln gegen den Schutz der Pressefreiheit abzuwägen gewesen. Auf das besondere Problem einerDurchsuchung von Redaktionsräumen geht der Beschluss aber nicht ein.
Darüber hinaus enthält der angegriffene Beschluss keine Begrenzung auf die von den beschuldigten Journalisten oder Fotografen benutzten Räume und erfasst damit sämtliche Redaktionsräume. Ausführungen dazu, warum diese räumliche Ausdehnung unter Berücksichtigung des Grundrechts derPressefreiheit angemessen ist, fehlen.

Beschluss vom 1. Februar 2005 – 1 BvR 2019/03 –
Karlsruhe, den 22. Februar 2005

s.a. www.inidia.de/pressefreiheit.htm
s.a. www.inidia.de/koerperwelten.htm

17 September 2004

BGH zu "Modrow-Käufen"

Dresdner Modrow-Käufe aus dem Jahre 1996 sind wirksam

Die beklagten Eheleute erhielten 1984 durch den damaligen Rat der Stadt Dresden ein dingliches Nutzungsrecht an einem volkseigenen Grundstück verliehen und errichteten darauf ein Eigenheim. Als die DDR noch vor den ersten freien Wahlen mit dem Gesetz über den Verkauf volkseigener Gebäude vom 7. März 1990 (sog. Modrow-Gesetz) den Verkauf auch von Grundstücken zu den damals geltenden sehr niedrigen Stopp-Preisen zuließ, stellten sie – wie tausende andere Bürger auch - bei dem Rat der Stadt Dresden einen Kaufantrag, der aber zunächst nicht beschieden wurde. Nach rechtskräftiger Abweisung für das Grundstück von dritter Seite gestellter Rückübertragungsansprüche nach dem Vermögensgesetz bot die Stadt Dresden im August 1996 deshalb auch den Beklagten einen Kaufvertrag zu dem Stopp-Preis von 4.250 DM an, der im September 1996 geschlossen und im Januar 1998 vollzogen wurde. Seit April 1996 erlaubt ein Erlaß des Sächsischen Staatsministeriums des Innern den Abschluß solcher Verträge nur noch bei geordneter Haushaltsführung.

In der Folgezeit überprüfte das Regierungspräsidium in Dresden diesen und 145 andere Kaufverträge, die die Stadt Dresden mit Bürgern geschlossen hatte, die einen Kaufantrag nach dem Verkaufsgesetz vom 7. März 1990 gestellt hatten. Im Jahre 2001 beanstandete sie diese Verträge wegen der extrem niedrigen Preise. Es hält alle diese Verträge für sittenwidrig und forderte die Stadt Dresden auf, die Rückabwicklung der Verträge zu betreiben.

Landgericht und Oberlandesgericht Dresden haben die vorliegende Musterklage abgewiesen. Der u. a. für das Grundstücksrecht zuständige V. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat diese Entscheidung mit den folgenden Erwägungen bestätigt.

Die Kaufverträge sind nicht an den engeren Maßstäben der Vorschriften über die Veräußerung kommunalen Vermögens zu messen, weil die Stadt Dresden das Grundstück an die Beklagten auf Grund einer besonderen Verfügungsbefugnis verkauft hat. In Ausnutzung dieser Befugnis unterlag sie nicht den kommunalverfassungsrechtlichen Bindungen, sondern nur dem allgemeinen Grundsatz, daß der Staat nichts verschenken darf. Dieser Grundsatz ist nicht schon dann verletzt, wenn die Stadt die ihr im Jahre 1994 durch das Sachenrechtsbereinigungsgesetz eingeräumte Möglichkeit, den halben Bodenwert als Kaufpreis zu verlangen, nicht nutzt. Sittenwidrig ist ein Verkauf erst dann, wenn der Preisnachlaß unter keinem Gesichtspunkt als durch die Verfolgung legitimer öffentlicher Aufgaben im Rahmen einer an den Grundsätzen der Rechtsstaatlichkeit orientierten Verwaltung gerechtfertigt angesehen werden kann.

So liegt es hier nicht. Der Verkauf an die Beklagten diente der Beseitigung der Ungleichbehandlung, die die Beklagten – wie viele andere Bürger in den neuen Ländern auch – bei der Behandlung ihrer Kaufanträge nach dem Verkaufsgesetz vom 7. März 1990 erfahren haben. Diese Anträge sind von den zuständigen Stellen nicht nach der Reihenfolge ihres Eingangs oder nach anderen sachlichen, sondern nach nicht nachvollziehbaren Kriterien abgearbeitet worden. Durch einen nachträglichen Verkauf zu den damaligen Bedingungen, den amtlich festgesetzten, aber sehr niedrigen Preisen, hat die Stadt Dresden (wie auch die anderen Kommunen in den neuen Ländern) die Gleichbehandlung, so gut sie vermochte, wieder herstellen wollen. Das ist eine legitime öffentliche Aufgabe, was sich auch daraus ergibt, daß diese Praxis von den obersten Kommunalaufsichtsbehörden stets gebilligt worden ist, und zwar auch nach dem Inkrafttreten des Sachenrechtsbereinigungsgesetzes, demzufolge die Kommunen den halben Bodenwert hätten verlangen können.

Urteil vom 17. September 2004 – V ZR 339/03
Karlsruhe, den 17. September 2004

30 Dezember 2003

Verschärfung des Sexualstrafrechts im Gesetzblatt

Presseerklärung - Berlin, 30. Dezember 2003

Heute ist die von der rot-grünen Bundesregierung eingebrachte Verschärfung des Sexualstrafrechts im Bundesgesetzblatt verkündet worden. Der Deutsche Bundestag hatte die Reform am 19. Dezember 2003 im Deutschen Bundestag endgültig verabschiedet.

Mit Inkrafttreten des Gesetzes wird der strafrechtliche Schutz von Kindern und behinderten Menschen gegen sexuellen Missbrauch verbessert, indem Schutzlücken geschlossen und – wo nötig – Strafen verschärft werden.

„Mit den Neuregelungen setzen wir ein wichtiges Signal bei der Bekämpfung von sexueller Gewalt an Kindern und behinderten Menschen. Mir ist wichtig, ungleiche strafrechtliche Wertungen beim sexuellen Missbrauch widerstandsunfähiger Personen aufzuheben. Ein bedeutendes Anliegen war es, vor allem den Austausch von kinderpornographischen Darstellungen im Internet innerhalb von geschlossenen Nutzergruppen schärfer zu sanktionieren. Künftig kann dies mit Freiheitsstrafe bis zu 5 Jahren geahndet werden. Davon soll die unmissverständliche Botschaft ausgehen: Kinderpornographie ist ein Verbrechen an der Seele der Kinder. Wer solche Fotos tauscht, setzt den Anreiz dafür, dass kinderpornographisches Material produziert wird. Deshalb wird jede und jeder unnachgiebig verfolgt und hart bestraft, der entsprechende Fotos besorgt. Zudem wird künftig bei jeder Straftat gegen die sexuelle Selbstbestimmung – also auch beim Exhibitionismus – eine DNA-Analyse und –Speicherung angeordnet werden können“, sagte Bundesjustizministerin Brigitte Zypries.

Das Gesetz hat folgende inhaltliche Schwerpunkte:

1. Sexueller Missbrauch von Kindern (§ 176 StGB)

Der Grundtatbestand des § 176 Abs. 1 und Abs. 2 StGB bleibt ein Vergehen mit einem Strafrahmen von 6 Monaten bis zu 10 Jahren.
Es gibt künftig keine minderschweren Fälle der Grundtatbestände des § 176 Abs. 1 und 2 StGB mehr (Streichung).
Hinzu kommen künftig besonders schwere Fälle (Einfügung eines neuen § 176 Abs. 3 StGB) des sexuellen Missbrauchs von Kindern mit einem Strafrahmen von 1 Jahr bis zu 15 Jahren.
Beispiel: Bisher fielen sehr viele beischlafähnliche Praktiken (z. B. der sog. Schenkelverkehr) oder die Fälle, in denen das Kind am Täter masturbieren muss, unter den einfachen sexuellen Missbrauch. Künftig wird hier das Gericht die Tat aufgrund der Intensität und der Nähe zum Beischlaf einen besonders schweren Fall annehmen und mit einer Mindeststrafe von 1 Jahr ahnden.
Bei Missbrauch ohne körperlichen Kontakt (§ 176 Abs. 3 StGB/alt; § 176 Abs. 4 StGB/neu) wird der Strafrahmen von bisher Freiheitsstrafe bis zu 5 Jahren oder Geldstrafe auf künftig Freiheitsstrafe von 3 Monate bis zu 5 Jahren angehoben.
2. Die Strafrahmen für den schweren sexuellen Missbrauch von Kindern (§ 176a Abs. 1 Nr. 1 bis 3 StGB/alt; § 176a Abs. 2 StGB/neu), also die Fälle, in denen z. B. der Täter mit dem Kind den Beischlaf vollzieht oder in dem mehrere Personen sich an dem Kind vergehen, werden angehoben:

Bisher gilt eine Mindeststrafe von 1 Jahr, künftig von 2 Jahren.
Bei minderschweren Fällen verschiebt sich der Strafrahmen von bisher Freiheitsstrafe von drei 3 Monaten bis zu 5 Jahren auf künftig Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu 10 Jahren (§176a Abs. 4 StGB/neu)
Die als Verbrechen eingestufte Rückfallvorschrift wird beibehalten (§ 176 Abs. 1 Nr. 4 StGB/alt;§ 176 Abs. 1 StGB/neu) . Die Vorschrift sieht vor, dass ein Täter, der innerhalb der letzten fünf Jahre wegen sexuellen Missbrauchs verurteilt wurde, bei einer neuerlichen Tat mit einer Mindestfreiheitsstrafe von einem Jahr zu rechnen hat.

3. Beim sexuellen Missbrauch widerstandsunfähiger Personen (§ 179 StGB) kommt es zum Gleichlauf zu § 176 StGB (sexueller Missbrauch von Kindern) einerseits, aber auch zum Gleichlauf zu § 177 StGB (Sexuelle Nötigung; Vergewaltigung) andererseits:

Der Grundtatbestand bleibt mit sechs Monaten bis zu 10 Jahren sanktioniert, minderschwere Fälle des Grundtatbestandes werden gestrichen.
Besonders schwere Fälle werden zukünftig mit einer Mindeststrafe von 1 Jahr sanktioniert.
Führt der Täter z. B. den Beischlaf aus (Qualifikation), so kommt es zu der neuen Mindeststrafe von 2 Jahren (vorher: 1 Jahr). Durch den künftigen Gleichlauf mit der zweijährigen Mindeststrafe bei der Vergewaltigung wird auch das Ziel einer Angleichung der Strafrahmen dieser Vorschriften an den Strafrahmen des § 177 StGB (Sexuelle Nötigung; Vergewaltigung) erreicht, was insbesondere Forderungen von Behindertenverbänden entspricht.
4. In anderen Tatbeständen wird der bisherige Strafrahmen von Freiheitsstrafe bis zu 5 Jahren oder Geldstrafe auf künftig Freiheitsstrafe von 3 Monaten bis zu 5 Jahren angehoben. Zu diesen Delikten zählen:

sexueller Missbrauch von Schutzbefohlenen (§ 174 StGB),
sexueller Missbrauch von Gefangenen, behördlich Verwahrten oder Kranken und Hilfsbedürftigen in Einrichtungen (§ 174a StGB),
sexueller Missbrauch unter Ausnutzung einer Amtsstellung (§ 174b StGB) und
sexueller Missbrauch unter Ausnutzung eines Beratungs-, Behandlungs- oder Betreuungsverhältnisses (§ 174c StGB).
Dazu kommt eine Erweiterung des Schutzbereichs des § 174a StGB (Streichung des Wortes „stationär“) und des § 174c StGB (auf körperlich kranke oder behinderte Personen).

5. Der strafrechtliche Schutz von Kindern gegen sexuellen Missbrauch wird auch durch neue Straftatbestände verbessert.

Beim einfachen sexuellen Missbrauch ohne Körperkontakt mit einem Strafrahmen von 3 Monaten bis zu 5 Jahren gibt es neue Straftatbestände. Künftig macht sich strafbar:
Wer durch Schriften auf ein Kind einwirkt, um es zu sexuellen Handlungen zu bringen (§ 176 Abs. 4 Nr. 3 StGB/neu). Beispiel: Der Täter zeigt dem Kind Pornohefte oder Filme, damit das Kind dort gesehene Handlungen mit dem Täter oder alleine wiederholt. Oder: Der Täter schreibt dem Kind eine Email, um sich mit dem Kind zu sexuellen Kontakten zu verabreden.
Wer ein Kind für sexuellen Missbrauch anbietet oder nachzuweisen verspricht (§ 176 Abs. 5 StGB/neu). Beispiel: Der Täter inseriert im Internet und bietet Kinder für sexuellen Missbrauch an. Unerheblich ist grundsätzlich, ob er das Angebot ernst gemeint hat oder nicht. Erscheint es als eine ernsthafte Anzeige und nicht nur als „Witz“, hat er sich grundsätzlich strafbar gemacht.
Wer sich mit einem anderen zum sexuellen Missbrauch eines Kindes verabredet (§ 176 Abs. 5 StGB/neu). Beispiel: Stiefvater und Freund beschließen, sich gemeinsam an der minderjährigen Tochter zu vergehen.
6. Flankiert werden diese Maßnahmen durch eine Erweiterung der Vorschrift des § 78b StGB. § 78b Abs. 1 Nr. 1 StGB (Ruhen der Verjährung bis zum 18. Lebensjahr) soll nicht nur um § 174 StGB (Sexueller Missbrauch von Schutzbefohlenen) ergänzt werden, sondern auch um § 174a StGB (Sexueller Missbrauch von Gefangenen, behördlich Verwahrten oder Kranken und Hilfsbedürftigen in Einrichtungen), § 174b StGB (Sexueller Missbrauch unter Ausnutzung einer Amtsstellung) und § 174c StGB (Sexueller Missbrauch unter Ausnutzung eines Beratungs-, Behandlungs- oder Betreuungsverhältnisses). Damit beginnt die Verjährung bei solchen Taten erst mit dem 18. Lebensjahr des Opfers zu laufen.

7. Der Verbreitung kinderpornographischer Schriften soll nachdrücklicher als bisher mit den Mitteln des Strafrechts Einhalt geboten werden. Deshalb wird der bisherige, unübersichtliche § 184 StGB (Verbreitung pornographischer Schriften) neu geordnet und mit § 184b StGB ein eigener Tatbestand für Kinderpornographie geschaffen.

§ 184b Abs. 1 StGB (neu) sanktioniert die Verbreitung, das öffentliche Ausstellen, Herstellen, Anbieten etc. kinderpornographischer Schriften mit einem Strafmaß von 3 Monaten bis zu 5 Jahren, hier gibt es keine Änderung.
Abs. 2 bestraft denjenigen, der es unternimmt, einem anderen den Besitz von kinderpornographischen Schriften zu verschaffen statt wie bisher mit Geld- oder Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr nunmehr mit einer Freiheitsstrafe von 3 Monaten bis zu 5 Jahren.
Abs. 3 sanktioniert wie bisher die gewerbs- oder bandenmäßige Verbreitung kinderpornographischer Schriften mit einer Freiheitsstrafe von 6 Monaten bis zu 10 Jahren, nimmt aber zusätzlich die gewerbs- oder bandenmäßige Besitzverschaffung an andere (z. B. geschlossene Benutzergruppe im Internet) neu auf.
Abs. 4 sanktioniert die sog. Eigenbesitzverschaffung (z. B. Kauf von Kinderpornos) und den Besitz kinderpornographischer Schriften und erhöht den Strafrahmen von bisher Freiheitsstrafe bis zu 1 Jahr oder Geldstrafe auf Freiheitsstrafe bis zu 2 Jahren oder Geldstrafe.
Bei einfacher Pornografie (§ 184 StGB/neu)sowie bei gewalt- oder tierpornographischen Schriften (§ 184a StGB/neu) bleibt es bei den bisherigen Regelungen. Besitz und Erwerb von einfacher Pornographie sind weiterhin straffrei.
8. Auch die Belohnung und Billigung von sexuellem Missbrauch und anderen Sexualstraftaten wird künftig strafbar sein. Deshalb wird der Tatbestand der Belohnung und Billigung von Straftaten (§ 140 StGB) erweitert um:

sexuellen Missbrauch eines Kindes in einem besonders schweren Fall (176 Abs. 3 StGB)
schweren sexuellen Missbrauch von Kindern (§ 176a StGB)
sexuellen Missbrauch von Kindern mit Todesfolge (§ 176b StGB)
sexuelle Nötigung und Vergewaltigung (§ 177 Abs. 1, 2 StGB)
sexuelle Nötigung mit Todesfolge (§ 178 StGB)
sexuellen Missbrauch von Widerstandsunfähigen im bes. schweren Fall (§ 179 Abs. 3 StGB).
9. Zusätzlich wird § 131 StGB (Gewaltdarstellung) so geändert, dass auch die Verbreitung der Darstellung von Gewalttätigkeiten gegen menschenähnliche Wesen strafbar wird. Dies war bereits nach dem Attentat von Erfurt beabsichtigt und erfolgt jetzt.

10. Erweiterung des Katalogs in § 81g StPO: Die Strafverfolger müssen künftig nicht mehr warten, bis ein Sexualtäter massive Straftaten begeht, um eine DNA-Analyse und DNA-Speicherung vorzunehmen.
Bislang konnte eine DNA-Analyse - obwohl prognostiziert wurde, dass der Täter erhebliche Straftaten begehen wird (sog. Negativprognose) - nur bei Sexualtätern mit erheblicher Straftat (Vergewaltigung, sexueller Missbrauch) genommen werden. Künftig ist eine DNA-Analyse bei allen Tätern möglich, die eine Tat gegen die sexuelle Selbstbestimmung begangen haben. Ohne Belang ist dabei, wie erheblich die Tat war. Bei den Erfordernissen der Negativprognose bleibt es aber selbstverständlich. Zudem werden die Anforderungen an die richterliche Begründung der Negativprognose konkretisiert.
Beispiel: Bisher ist eine DNA-Analyse in Fällen exhibitionistischer Handlungen (§ 183 StGB) zum Zwecke künftiger Strafverfahren nicht möglich, da es sich nicht um eine Straftat von erheblicher Bedeutung handelt. Nach der Änderung von § 81g StPO wird das nun anders sein.

11. Im gerichtlichen Verfahren ist künftig einem Nebenkläger, der auf Grund einer psychischen oder physischen Behinderung seine Interessen nicht ausreichend wahrnehmen kann, auf Antrag ein sogenannter Opferanwalt beizuordnen (Opferanwalt für behinderten Nebenkläger).

12. Bei Heranwachsenden, die nach allgemeinem Strafrecht („Erwachsenenstrafrecht“) verurteilt werden, kann sich das Gericht künftig im Urteil die spätere Anordnung der Sicherungsverwahrung vorbehalten. Zusätzliche Einschränkung gegenüber den Voraussetzungen, die bei Erwachsenen vorliegen müssen, ist, dass der Heranwachsende in diesem Verfahren (in dem die Sicherungsverwahrung vorbehalten wird) mindestens zu 5 Jahren Freiheitsstrafe verurteilt wird.

24 September 2003

BVerfG: Lehrerin mit Kopftuch

Ein Verbot für Lehrkräfte, in Schule und Unterricht ein Kopftuch zutragen, findet im geltenden Recht des Landes Baden-Württemberg keine hinreichend bestimmte gesetzliche Grundlage.
Der mit zunehmender religiöser Pluralität verbundene gesellschaftliche Wandel kann für den Gesetzgeber Anlass zu einer Neubestimmung des zulässigen Ausmaßes religiöser Bezüge in der Schule sein. Dies hat der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts mit heute verkündetem Urteil entschieden.

Auf die Verfassungsbeschwerde der Lehrerin, die ihre Einstellung als Beamtinauf Probe in den Schuldienst des Landes Baden-Württemberg anstrebt, hat der Zweite Senat festgestellt, dass die entgegenstehenden Entscheidungen der Verwaltungsgerichte und der zuständigen Behörden des Landes Baden-Württemberg die Beschwerdeführerin (Bf) in ihren Rechtenaus Art. 33 Abs. 2 i.V.m. Art. 4 Abs. 1 und 2 und mit Art. 33 Abs. 3 des Grundgesetzes verletzen.

Das Urteil des Bundesverwaltungsgerichtswurde aufgehoben und die Sache dorthin zurückverwiesen. Die Entscheidung ist mit fünf gegen drei Stimmen ergangen.

Wegen der Einzelheiten des dem Verfahren zu Grunde liegenden Sachverhalts wird auf die Pressemitteilung Nr. 40/2003 vom 16. Mai2003 verwiesen.

1. Der Senat hat im Wesentlichen ausgeführt:Der zu Grunde liegende Sachverhalt betrifft mehrereverfassungsrechtlich geschützte Rechtspositionen: Jedem Deutschen ist nach Maßgabe seiner Eignung, Befähigung und fachlichen Leistung gleicher Zugang zu jedem öffentlichen Amt eröffnet. Dabei ist ein Zusammenhang zwischen der Zulassung zu öffentlichen Ämtern und dem religiösen Bekenntnis ausgeschlossen.

Das Tragen eines Kopftuchs durch die Bf in Schule und Unterricht fällt unter den Schutz des Grundrechts der Glaubensfreiheit.

Mit diesem Grundrecht treten neben dem staatlichen Erziehungsauftrag die Verfassungsgüter des elterlichen Erziehungsrechts und die negative Glaubensfreiheit der Schulkinderin Widerstreit.
Dazu heißt es in der Entscheidung unter anderem: Die dem Staat gebotene religiös-weltanschauliche Neutralität ist nicht im Sinne einer strikten Trennung von Staat und Kirche, sondern als eine offene und übergreifende, die Glaubensfreiheit für alle Bekenntnisse gleichermaßen fördernde Haltung zu verstehen. Dies gilt insbesondere auch für den Bereich der Pflichtschule.

Christliche Bezüge sind bei der Gestaltung der öffentlichen Schule nicht schlechthin verboten; die Schule muss aber auch für andere weltanschauliche und religiöse Inhalte und Werte offen sein.

In dieser Offenheit bewahrt der freiheitliche Staat des Grundgesetzes seine religiöse und weltanschauliche Neutralität. Indem die Bf durch das Tragen des Kopftuchs in Schule und Unterricht die Freiheit in Anspruch nimmt, ihre Glaubensüberzeugung zu zeigen, wird die negative Glaubensfreiheit der Schülerinnen und Schüler, nämlich kultischen Handlungen eines nicht geteilten Glaubens fernzubleiben, berührt.

In einer Gesellschaft mit unterschiedlichen Glaubensüberzeugungen gibt es allerdings kein Recht darauf, von Bekundungen, kultischen Handlungen und religiösen Symbolen eines fremden Glaubens verschont zu bleiben.

Die Länder haben im Schulwesen umfassende Gestaltungsfreiheit. Das unvermeidliche Spannungsverhältnis zwischen positiver Glaubensfreiheit eines Lehrers einerseits und der staatlichen Pflicht zu weltanschaulich-religiöser Neutralität, dem Erziehungsrecht der Eltern sowie der negativen Glaubensfreiheit der Schüler andererseits unter Berücksichtigung des Toleranzgebots hat der demokratische Landesgesetzgeber zu lösen, der im öffentlichen Willensbildungsprozess eine für alle zumutbare Regelung zu suchen hat.
Dabei können die einzelnen Länder zu verschiedenen Regelungen kommen. Bei dem zufindenden Mittelweg dürfen auch Schultraditionen, konfessionelle Zusammensetzung der Bevölkerung und ihre mehr oder weniger starkereligiöse Verwurzelung berücksichtigt werden.
Diese Grundsätze gelten auch, wenn Lehrern unter Beschränkung ihres individuellen Grundrechts der Glaubensfreiheit für ihr Auftreten und Verhalten in der Schule mit Rücksicht auf die Wahrung der weltanschaulich-religiösen Neutralität des Staates Pflichten auferlegt werden sollen.
Bringen Lehrkräfte religiöse oder weltanschauliche Bezüge in Schule und Unterricht ein, kann dies den in Neutralität zu erfüllenden staatlichen Erziehungsauftrag, das elterliche Erziehungsrecht und die negative Glaubensfreiheit der Schülerinnen und Schüler beeinträchtigen. Es ist zumindest möglich, dass dadurch Schulkinder beeinflusst und Konflikte mit Eltern ausgelöst werden, die den Schulfrieden stören und die Erfüllung des Erziehungsauftrags der Schule gefährden können.
Auch die Bekleidung von Lehrern, die als religiös motiviert verstanden werden kann, kann so wirken. Dies sind aber lediglich abstrakte Gefahren. Sollen bereits derartige bloße Möglichkeiten einer Gefährdung oder eines Konflikts auf Grund des Auftretens der Lehrkraft und nicht erst deren konkretes Verhalten als Verletzung beamtenrechtlicher Pflichten oder als Eignungsmangel bewertet werden, so ist eine hinreichend bestimmte gesetzliche Grundlage erforderlich. Denn diese Bewertung geht mit einer Einschränkung des vorbehaltlos gewährten Grundrechts aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG einher.

Der Senat führt hierzu im Einzelnen aus:

Der Aussagegehalt des von Musliminnen getragenen Kopftuchs wird höchst unterschiedlich wahrgenommen.

Es kann ein Zeichen für als verpflichtend empfundene, religiös fundierte Bekleidungsregeln wie für Traditionen der Herkunftsgesellschaft sein.
In jüngster Zeit wird in ihm verstärkt ein politisches Symbol des islamischen Fundamentalismus gesehen.
Die Deutung des Kopftuchs kann jedoch nicht auf ein Zeichengesellschaftlicher Unterdrückung der Frau verkürzt werden. Dies zeigen neuere Forschungsergebnisse. Junge muslimische Frauen wählen dasKopftuch auch frei, um ohne Bruch mit der Herkunftskultur ein selbstbestimmtes Leben zu führen.
Insoweit ist nicht belegt, dass die Bf allein dadurch, dass sie ein Kopftuch trägt, etwa muslimischen Schülerinnen die Entwicklung eines den Wertvorstellungen des Grundgesetzes entsprechenden Frauenbildes oder dessen Umsetzung im eigenen Leben erschweren würde.

Für die Frage, ob das Tragen eines Kopftuchs in Schule und Unterricht einen Eignungsmangel begründet, kommt es darauf an, wie das Kopftuchauf einen Betrachter wirken kann.
Hinsichtlich der Wirkung religiöser Ausdrucksmittel ist entscheidend, ob das in Frage stehende Zeichen auf Veranlassung der Schulbehörde oder aufgrund eigener Entscheidung voneiner einzelnen Lehrkraft in Ausübung ihrer Glaubensfreiheit verwendet wird. Duldet der Staat in der Schule eine religiös deutbare Bekleidung von Lehrern, die diese auf Grund individueller Entscheidung tragen, sokann dies mit einer staatlichen Anordnung, religiöse Symbole in derSchule anzubringen, nicht gleichgesetzt werden.

Der Staat macht mitder Hinnahme einer bestimmten Bekleidung einer einzelnen Lehrerin dieseAussage nicht schon dadurch zu seiner eigenen und muss sie sich auchnicht als von ihm beabsichtigt zurechnen lassen.
Ein von der Lehrerin aus religiösen Gründen getragenes Kopftuch kann allerdings deshalb besonders intensiv wirken, weil die Schüler für die gesamte Dauer des Schulbesuchs mit der im Mittelpunkt des Unterrichtsgeschehens stehenden Lehrerin ohne Ausweichmöglichkeit konfrontiert sind. Es fehlt jedoch eine gesicherte empirische Grundlage für die Annahme, dass vom Tragen des Kopftuchs bestimmende Einflüsse auf die religiöse Orientierung der Schulkinder ausgehen. Die in der mündlichen Verhandlung dazu angehörten Sachverständigen konnten von keinen gesicherten Erkenntnissen über eine solche Beeinflussung von Kindern aus entwicklungspsychologischer Sicht berichten.
Für ein mit der Abwehr bloß abstrakter Gefährdungen begründetes vorbeugendes Verbot für Lehrkräfte, in Schule und Unterricht ein Kopftuch zu tragen, reicht die im Land Baden-Württemberg geltende beamten- und schulrechtliche Gesetzeslage nicht aus. Dies wird in der Entscheidung im Einzelnen näher begründet.
Dem zuständigen Landesgesetzgeber steht es frei, die bislang fehlende gesetzliche Grundlage zu schaffen. So kann er im Rahmen der verfassungsrechtlichen Vorgaben das zulässige Maß religiöser Bezüge in der Schule neu bestimmen.
Dabei hat er die grundrechtlich geschützten Rechtspositionen der Lehrer, der Schüler, der Eltern und die Pflichtdes Staates zu weltanschaulich-religiöser Neutralität angemessen zu berücksichtigen.

Der mit zunehmender religiöser Pluralität verbundene gesellschaftliche Wandel kann Anlass sein, das zulässige Ausmaß religiöser Bezüge in der Schule neu zu bestimmen.

Die Schule ist der Ort, an dem unterschiedliche religiöse Auffassungen unausweichlich aufeinandertreffen und wo sich dieses Nebeneinander in besonders empfindlicher Weise auswirkt.
Es lassen sich Gründe dafür anführen,die zunehmende religiöse Vielfalt in der Schule aufzunehmen und als Mittel für die Einübung von gegenseitiger Toleranz zu nutzen, um so einen Beitrag in dem Bemühen um Integration zu leisten.

Mit der beschriebenen Entwicklung ist aber auch ein größeres Potential möglicher Konflikte in der Schule verbunden. Es mag deshalb auch gute Gründe dafür geben, der staatlichen Neutralitätspflicht im schulischen Bereich eine striktere und mehr als bisher distanzierende Bedeutung beizumessen und demgemäß auch durch das äußere Erscheinungsbild einer Lehrkraft vermittelte religiöse Bezüge von den Schülern grundsätzlich fern zu halten, um Konflikte mit Schülern, Eltern oder anderen Lehrkräften von vornherein zu vermeiden.

Wie auf die gewandelten Verhältnisse zu antworten ist, hat nicht die Exekutive zu entscheiden.

Vielmehr bedarf es hierfür einer Regelung durch den demokratisch legitimierten Gesetzgeber. Nur er verfügt über eine Einschätzungsprärogative, die Behörden und Gerichte nicht für sich in Anspruch nehmen können.
Ein Kopftuchverbot in öffentlichen Schulen als Element einer gesetzgeberischen Entscheidung über das Verhältnis von Staat und Religion im Schulwesen kann die Religionsfreiheit zulässigerweise einschränken. Diese Annahme steht im Einklang mit Art. 9 der Europäischen Menschenrechtskonvention.

Rechtsstaatsprinzip und Demokratiegebot verpflichten den Gesetzgeber, die für die Grundrechtsverwirklichung maßgeblichen Regelungen selbst zu treffen. Dies gilt vor allem dann, wenn die betroffenen Grundrechte - wie hier -von der Verfassung ohne Gesetzesvorbehalt gewährleistet sind und eine Regelung damit notwendiger Weise ihre verfassungsimmanenten Schranken bestimmen und konkretisieren muss.
Solche Regelungen sind dem Parlament vorbehalten, um sicher zu stellen, dass Entscheidungen von solcher Tragweite aus einem Verfahren hervorgehen, das der Öffentlichkeit Gelegenheit bietet, ihre Auffassungen auszubilden und zu vertreten und die Volksvertretung dazu anhält, Notwendigkeit und Ausmaß von Grundrechtseingriffen in öffentlicher Debatte zu klären.

2. Die Richter Jentsch, Di Fabio und Mellinghoff führen im Sondervotum aus:

a. Der von der Senatsmehrheit angenommene Gesetzesvorbehalt für dieBegründung von Dienstpflichten im Zusammenhang mit der Religions- und Weltanschauungsfreiheit des Beamten wurde bislang weder in Rechtsprechung und Literatur noch von der Bf selbst vertreten. Aufgrund dieser Annahme bleibt die verfassungsrechtliche Grundsatzfrage nach der staatlichen Neutralität im Bildungs- und Erziehungsraum der Schule unentschieden.
Außerdem kommt es zu einer im Grundgesetz nicht angelegten Fehlgewichtung im System der Gewaltenteilung sowie imVerständnis der Geltungskraft der Grundrechte beim Zugang zu öffentlichen Ämtern.
Schließlich gibt die Senatsmehrheit dem Landesgesetzgeber keine Möglichkeit, sich auf die von ihr angenommene neue Verfassungsrechtslage einzustellen und versäumt es, Rechtsprechung und Verwaltung zu sagen, wie sie bis zum Erlass eines Landesgesetzesverfahren sollen.

Dazu heißt es in der abweichenden Meinung im Einzelnen: Der Grundrechtsschutz für Beamte ist funktionell begrenzt.

Wer Beamter wird, stellt sich in freier Willensentschließung auf die Seite des Staates. Beamtete Lehrer genießen bereits vom Ansatz her nicht denselben Grundrechtsschutz wie Eltern und Schüler: Sie sind vielmehr an Grundrechte gebunden, weil sie teilhaben an der Ausübung öffentlicher Gewalt.

Die Dienstpflicht des Beamten ist die Kehrseite der Freiheit desjenigen Bürgers, dem die öffentliche Gewalt in der Person des Beamten gegenübertritt.

Mit Dienstpflichten sichert der Staat in seiner Binnensphäre die gleichmäßige, gesetzes- und verfassungstreueVerwaltung. Die Rechtsstellung des Bewerbers, der keinen Einstellungsanspruch hat, darf nicht aus der Abwehrperspektive eines Grundrechtsträgers gegen den Staat gesehen werden.
Mit dem freiwilligen Eintritt in das Beamtenverhältnis entscheidet sich der Bewerber in Freiheit für die Bindung an das Gemeinwohl und die Treue zu einem Dienstherrn.

Die Geltung des Gesetzesvorbehalts im Schulrecht ist in der Vergangenheit nicht zum Schutze der beamteten Lehrer, sondern um der Eltern und Schüler willen ausgeweitet worden. Wer im grundrechtsverpflichteten Lehrer primär den Grundrechtsträger sieht und seine Freiheitsansprüche damit gegen Schüler und Eltern richtet, verkürzt deren Freiheit.

Beamte sollen freiheitsbewusste Staatsbürgersein, sie sollen zugleich aber den grundsätzlichen Vorrang der Dienstpflichten und den darin verkörperten Willen der demokratischenOrgane achten. Das Beamtenverhältnis als besondere Nähebeziehung zwischen Bürger und Staat ist gerade keine vom Grundrechtsanspruch des Beamten geprägte Rechtsbeziehung. Die hier zu beurteilende Eignungsbeurteilung darf nicht mit einem Eingriff in die Glaubensfreiheit verwechselt werden.

Die Neutralitätspflicht des Beamten ergibt sich aus der Verfassung selbst. Die Begründung der Senatsmehrheit ist deshalb mit grundlegenden Aussagen der Verfassung zum Verhältnis von Gesellschaft und Staat nicht vereinbar. Verkannt wird insbesondere die Stellung des öffentlichen Dienstes bei der Verwirklichung des demokratischen Willens.

Im Einzelnen heißt es dazu: Wer Beamter werden will, strebt die Nähe zur öffentlichen Gewalt an undbegehrt - wie die Bf - die Begründung eines besonderen Dienst- und Treueverhältnisses zum Staat.
Diese Pflichtenstellung überlagert den grundsätzlich auch für Beamte geltenden Schutz der Grundrechte, soweitAufgabe und Zweck des öffentlichen Amts dies erfordern.
Die dem Beamten obliegenden Verpflichtungen sind entscheidend für das Vertrauen der Bürger in die Erfüllung der Aufgaben des demokratischen Rechtsstaats. Hieraus folgt das Neutralitäts- und Mäßigungsgebot der Beamten, das der grundsätzlichen Neutralitätspflicht des Staates auch für den religiösen und weltanschaulichen Bereich entspricht.
Es kennzeichnet das Berufsbeamtentum, dass der Dienstherr Dienstpflichten nach den jeweiligen Bedürfnissen einer rechtsstaatlichen und sachlich wirksamen Verwaltung festlegt. Diese Prinzipien gelten unmittelbar von Verfassungs wegen. Die Anforderungen an Zurückhaltung und Neutralität des Beamten bedürfen deshalb weder allgemein noch im Schulverhältnis weiterer gesetzlicher Konkretisierung.

b. Nach diesen Maßstäben ist das von der Bf begehrte kompromisslose Tragen des Kopftuchs im Schulunterricht mit dem Mäßigungs- und Neutralitätsgebot eines Beamten nicht vereinbar.

Um die Eignung eines Beamtenbewerbers zu verneinen, bedarf es keiner "konkreten Gefährdung des Schulfriedens". Diese Annahme verkennt den Beurteilungsmaßstab für die Eignungsbeurteilung. Die Entfernung eines Beamten auf Lebenszeitaus dem Dienst wegen Verletzung seiner Dienstpflichten ist nur eingeschränkt möglich. Deshalb muss der Dienstherr bereits zuvor imRahmen der Eignungsprüfung dafür sorgen, dass niemand Beamter wird, der nicht die Gewähr dafür bietet, die aus Art. 33 Abs. 5 GG folgenden Dienstpflichten einzuhalten.
Auch auf eine abstrakte Gefahrenlage kommt es in einem solchen Konfliktfall nicht an. Es widerspricht vielmehr dem beamtenrechtlichen Funktionsvorbehalt, wenn sich der Staat gegen seine eigenen Beamten, die ihn verkörpern und durch die er handelt, auf die polizeirechtliche Gefahrenschwelle berufen müsste, um deren Verhalten im Dienst zu reglementieren. Zur Konkretisierung einer Dienstpflicht von Beamten bedarf es auch nicht des wissenschaftlich-empirischen Nachweises einer Gefahrenlage.
Durch die Verwendung signifikanter Bekleidungssymbole erscheint ein Konflikt in nachvollziehbarer Weise oder sogar naheliegend. Davon sind die Fachgerichte zu Recht ausgegangen.
Das Kopftuch, getragen als kompromisslose Erfüllung eines von der Beschwerdeführerin angenommenen islamischen Verhüllungsgebotes der Frau, steht gegenwärtig für vieleMenschen innerhalb und außerhalb der islamischen Religionsgemeinschaft für eine religiös begründete kulturpolitische Aussage, insbesondere dasVerhältnis der Geschlechter zueinander betreffend. Die Senatsmehrheithat diesem Umstand keine ausreichende Bedeutung zugemessen. Sie hat sich deshalb auch nicht damit auseinandergesetzt, ob die Auffassung, eine Verhüllung der Frauen gewährleiste ihre Unterordnung unter dem Mann, offenbar von einer nicht unbedeutenden Zahl der Anhänger islamischen Glaubens vertreten wird und deshalb geeignet ist, Konflikte mit der auch im Grundgesetz deutlich akzentuierten Gleichberechtigung von Mann und Frau hervorzurufen.

c. Der baden-württembergische Landtag hat ausdrücklich bekundet, aus Anlass des Falles der Bf kein formelles Gesetz zu erlassen. Dies übergeht die Begründung der Senatsmehrheit. Die dem Landesgesetzgeber anheimgestellte Aufgabe, sich unmittelbar aus Verfassungsrecht ergebende Beschränkungen deklaratorisch nachzuzeichnen, ist aber nicht seine Sache, zumal ein solches Gesetz möglicherweise in späterenVerfahren vor dem Bundesverfassungsgericht erneut auf den Prüfstand gestellt wird.
Zudem wird die Volksvertretung im Unklaren gelassen, wie eine verfassungsgemäße Regelung aussehen kann. Die offenen Fragen zählt das Sondervotum auf.
Schließlich kann sich der Landesgesetzgeber nicht auf die angenommene neue Verfassungsrechtslage einstellen. Rechtsprechung und Verwaltung erfahren nicht, wie sie bis zum Erlass eines Landesgesetzes verfahren sollen.

Der Senat lässt eine verfassungsrechtliche Grundsatzfrage trotz Entscheidungsreife unbeantwortet. Mit der unerwarteten Forderung der Senatsmehrheit nach einem Gesetzesvorbehalt für die Begründung von Dienstpflichten wird das auch dem Staat als Verfahrensbeteiligtem zustehende Prozessrecht auf rechtliches Gehör nicht hinreichend berücksichtigt. Ein solcher Gesetzesvorbehalt war auch in der mündlichen Verhandlung nicht ernsthafter Gegenstand des Rechtsgesprächs. Das Land hätte dazu Gelegenheit zur Stellungnahme erhalten müssen. Angesichts dieses prozessualen Versäumnisses hätte dem Landesgesetzgeber auch nach der bisherigen verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung zum Gesetzesvorbehalt eine angemessene Übergangsfristgewährt werden müssen. Dies hätte die Auswirkungen einer Überraschungsentscheidung gemindert. Der Landesgesetzgeber hätte dann auch für den vorliegenden Fall eine wirksame gesetzliche Grundlage schaffen können.

Schließlich bleibt auch unklar, wie das Bundesverwaltungsgericht mit dem zurückverwiesenen Rechtsstreit weiter verfahren soll. Einerseits müsste es auf der Grundlage der Annahme der Senatsmehrheit der Klage zur Zeit stattgeben, was zu beamtenrechtlich vollendeten Tatsachen führen würde, andererseits käme auch eineAussetzung des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens in Betracht, bis der Landtag eine lehrerdienstrechtliche gesetzliche Grundlage geschaffen hat.

Urteil vom 24. September 2003 - Az. 2 BvR 1436/02 -Karlsruhe, den 24. September 2003

23 September 2003

BGH zur Meinungsfreiheit in Internetforen

Entscheidung des Bundesgerichtshofs zur Haftung eines Internetproviders für den Inhalt von ihm zur Verfügung gestellter Internetseiten

Die Beklagte ist ein Internetprovider, der Dritten unter deren Internetdomains den Internetzugang sowie Webspace zur Verfügung stellt. Der Kläger verlangt von ihr immateriellen Schadensersatz, weil auf von ihr zur Verfügung gestellten Internetseiten gegen ihn rassistisch-neonazistische Beschimpfungen in volksverhetzender Art sowie Morddrohungen und Anstiftung zu Straftaten veröffentlicht worden seien. Darauf habe er die Beklagte durch Telefonate, e-mails und Faxnachrichten mehrfach hingewiesen.

Amts- und Landgericht haben die Klage abgewiesen, weil der Kläger nicht nachgewiesen habe, daß er die Beklagte von den Inhalten in Kenntnis gesetzt hat. Die Revision des Klägers blieb aus den nachfolgenden Gründen ohne Erfolg.

Eine Haftung des Diensteanbieters ist nach § 823 BGB in Verbindung mit § 5 des für dieses Verfahren geltenden Teledienstgesetzes (TDG) in der Fassung vom 22. Juli 1997 (BGBl. I 1870) für fremde Inhalte nur dann begründet, wenn er diese gekannt hat. Nach der heutigen Entscheidung des Bundesgerichtshofs muß der Anspruchsteller eine solche Kenntnis des Anbieters darlegen und beweisen. Dies ergibt sich aus den allgemeinen Grundsätzen. Hiernach muß grundsätzlich der Anspruchsteller beweisen, daß die Voraussetzungen der Norm vorliegen, auf die er seinen Anspruch stützt. Dies entspricht auch dem Sinn und Zweck des § 5 TDG a.F.. Die dort geforderte Kenntnis des Anspruchstellers ist als eine zusätzliche anspruchsbegründende Voraussetzung für die Haftung der Diensteanbieter anzusehen. Der Gesetzgeber wollte die Verantwortlichkeit der Diensteanbieter für fremde Inhalte einschränken, weil sie den fremden Inhalt nicht veranlaßt haben und es ihnen angesichts der Vielzahl fremder Inhalte zunehmend unmöglich ist, diese zu kontrollieren. Demgemäß wurde § 5 TDG a.F. so ausgestaltet, daß die Voraussetzungen dieser Vorschrift erfüllt sein müssen, um eine Haftung des Diensteanbieters nach den allgemeinen Haftungsnormen, hier § 823 BGB, zu begründen. Für den hiernach erforderlichen Beweis einer Information durch den Anspruchsteller dürfte in der Regel der Nachweis ausreichen, daß er den Diensteanbieter auf den beanstandeten Inhalt und die betreffende Internetseite hingewiesen hat. Dabei muß die Internetseite allerdings so präzise bezeichnet sein, daß es dem Anbieter ohne unzumutbaren Aufwand möglich ist, den Inhalt aufzufinden. Den Beweis derartiger Hinweise hat der Kläger im hier zu entscheidenden Fall nicht geführt.

Die Vorschriften des Teledienstgesetzes zur Verantwortlichkeit der Diensteanbieter wurden inzwischen durch Artikel 1 des Gesetzes über rechtliche Rahmenbedingungen für den elektronischen Geschäftsverkehr vom 14. Dezember 2001 (BGBl. I 3721) neu gefaßt. Die Auslegung der neu gefaßten Vorschriften war nicht Gegen-stand dieses Urteils.

Urteil vom 23. September 2003 - VI ZR 335/02
Karlsruhe, den 23. September 2003

BGH zur Haftung im Internet

Entscheidung des Bundesgerichtshofs zur Haftung eines Internetproviders für den Inhalt von ihm zur Verfügung gestellter Internetseiten

Die Beklagte ist ein Internetprovider, der Dritten unter deren Internetdomains den Internetzugang sowie Webspace zur Verfügung stellt. Der Kläger verlangt von ihr immateriellen Schadensersatz, weil auf von ihr zur Verfügung gestellten Internetseiten gegen ihn rassistisch-neonazistische Beschimpfungen in volksverhetzender Art sowie Morddrohungen und Anstiftung zu Straftaten veröffentlicht worden seien. Darauf habe er die Beklagte durch Telefonate, e-mails und Faxnachrichten mehrfach hingewiesen.

Amts- und Landgericht haben die Klage abgewiesen, weil der Kläger nicht nachgewiesen habe, daß er die Beklagte von den Inhalten in Kenntnis gesetzt hat. Die Revision des Klägers blieb aus den nachfolgenden Gründen ohne Erfolg.

Eine Haftung des Diensteanbieters ist nach § 823 BGB in Verbindung mit § 5 des für dieses Verfahren geltenden Teledienstgesetzes (TDG) in der Fassung vom 22. Juli 1997 (BGBl. I 1870) für fremde Inhalte nur dann begründet, wenn er diese gekannt hat. Nach der heutigen Entscheidung des Bundesgerichtshofs muß der Anspruchsteller eine solche Kenntnis des Anbieters darlegen und beweisen. Dies ergibt sich aus den allgemeinen Grundsätzen. Hiernach muß grundsätzlich der Anspruchsteller beweisen, daß die Voraussetzungen der Norm vorliegen, auf die er seinen Anspruch stützt. Dies entspricht auch dem Sinn und Zweck des § 5 TDG a.F.. Die dort geforderte Kenntnis des Anspruchstellers ist als eine zusätzliche anspruchsbegründende Voraussetzung für die Haftung der Diensteanbieter anzusehen. Der Gesetzgeber wollte die Verantwortlichkeit der Diensteanbieter für fremde Inhalte einschränken, weil sie den fremden Inhalt nicht veranlaßt haben und es ihnen angesichts der Vielzahl fremder Inhalte zunehmend unmöglich ist, diese zu kontrollieren. Demgemäß wurde § 5 TDG a.F. so ausgestaltet, daß die Voraussetzungen dieser Vorschrift erfüllt sein müssen, um eine Haftung des Diensteanbieters nach den allgemeinen Haftungsnormen, hier § 823 BGB, zu begründen. Für den hiernach erforderlichen Beweis einer Information durch den Anspruchsteller dürfte in der Regel der Nachweis ausreichen, daß er den Diensteanbieter auf den beanstandeten Inhalt und die betreffende Internetseite hingewiesen hat. Dabei muß die Internetseite allerdings so präzise bezeichnet sein, daß es dem Anbieter ohne unzumutbaren Aufwand möglich ist, den Inhalt aufzufinden. Den Beweis derartiger Hinweise hat der Kläger im hier zu entscheidenden Fall nicht geführt.

Die Vorschriften des Teledienstgesetzes zur Verantwortlichkeit der Diensteanbieter wurden inzwischen durch Artikel 1 des Gesetzes über rechtliche Rahmenbedingungen für den elektronischen Geschäftsverkehr vom 14. Dezember 2001 (BGBl. I 3721) neu gefaßt. Die Auslegung der neu gefaßten Vorschriften war nicht Gegen-stand dieses Urteils.

Urteil vom 23. September 2003 - VI ZR 335/02
Karlsruhe, den 23. September 2003

21 August 2003

BVerfG: Kopftuch und Arbeitsrecht

Zum Kopftuch einer muslimischen Verkäuferin in einem Kaufhaus

Die 2. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts hat die Verfassungsbeschwerde (Vb) der Betreiberin eines Kaufhauses, die das Arbeitsverhältnis mit einer Verkäuferin mit Kopftuch gekündigt hatte, nicht zur Entscheidung angenommen.

Zum Sachverhalt:

Die Beschwerdeführerin (Bf) betreibt ein Kaufhaus. Eine dort seit 1989 beschäftigte muslimische Verkäuferin teilte der Bf mit, sie werde bei ihrer Tätigkeit künftig ein Kopftuch tragen. Ihre religiösen Vorstellungen hätten sich gewandelt, der Islam verbiete es ihr, sich in der Öffentlichkeit ohne Kopftuch zu zeigen.
Die Bf kündigte daraufhin ordentlich das Arbeitsverhältnis. Die Kündigungsschutzklage der Verkäuferin war in 1. und 2. Instanz erfolglos, ihre Revision hatte jedoch vor dem Bundesarbeitsgericht (BAG) Erfolg.

Hiergegen richtet sich die Vb. Die Bf sieht sich in ihren Grundrechten aus Art. 2 Abs. 1, Art.12 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 19 Abs. 3 GG verletzt. Das BAG trage einseitig den Interessen der Arbeitnehmerin Rechnung, ohne die Berufs- und Vertragsfreiheit des Arbeitgebers ausreichend zu berücksichtigen.

Aus den Entscheidungsgründen ergibt sich:

Es liegen keine Gründe für die Annahme der Vb vor. Die Vb hat keine Aussicht auf Erfolg. Das BAG hat bei der Auslegung und Anwendung der Kündigungsvorschriften den Grundrechtsschutz des Arbeitgebers aus Art.12 Abs. 1 GG nicht verkannt.
Im vorliegenden Fall können sich zwei Personen des Privatrechts, nämlich sowohl die gekündigte Arbeitnehmerin wie auch die Bf auf den Schutz ihrer Berufsfreiheit berufen.
Der Arbeitnehmerin kommt darüber hinaus auch der Schutz aus Art. 4 Abs. 1 GG zugute, da sie ihren Arbeitsplatz aufgrund eines Verhaltens, zu dem sie sich aus religiösen Gründen verpflichtet fühlt, verlieren soll.

Privatpersonen unterliegen grundsätzlich nicht der Bindung der Grundrechte.

Gleichwohl sind die Grundrechte auch in privatrechtlichen Beziehungen von Bedeutung.

Sie beeinflussen die Auslegung der zivilrechtlichen Vorschriften, die im Geiste der Grundrechte ausgelegt und angewandt werden müssen, was sich vor allem auf die zivilrechtlichen Generalklauseln und die sonstigen auslegungsfähigen und auslegungsbedürftigen Begriffe auswirkt. Dies gilt auch im Arbeitsrecht.

Es ist Sache der Fachgerichte, diesen grundrechtlichen Schutz durch Auslegung und Anwendung des Rechts zu gewähren und im Einzelfall zu konkretisieren.
Das Bundesverfassungsgericht tritt deren Beurteilung und Abwägung von Grundrechtspositionen im Verhältnis zueinander nur bei Auslegungsfehlern entgegen, die auf einer grundsätzlich unrichtigen Auffassung von der Bedeutung eines Grundrechts, insbesondere vom Umfang seines Schutzbereichs beruhen und auch in ihrer materiellen Bedeutung für denRechtsfall von einigem Gewicht sind.

Nach diesen Maßstäben hat das BAG die wechselseitigen Grundrechtspositionen der gekündigten Arbeitnehmerin und der Bf erkannt und in plausibler Weise gewürdigt, ohne dass dies verfassungsrechtlich zu beanstanden wäre.

Aus den kollidierenden Grundrechtspositionen der Arbeitnehmerin und der Bf ergeben sich abstrakt keine Maßstäbe dafür, welches Maß der Einschränkung seiner Kündigungsfreiheit der Arbeitgeber letztlich hinnehmen muss, um den Freiheitsraum des Arbeitnehmers im Rahmen des von beiden Parteien freiwillig eingegangenen Verhältnisses zu wahren.
In erster Linie haben die Fachgerichte im konkreten Einzelfall des betroffenen Arbeitsverhältnisses abzuwägen, ob eine bestimmte Erwartungshaltung an das Verhalten des Arbeitnehmers eine Kündigung des Arbeitsverhältnisses rechtfertigen kann, wenn der Arbeitnehmer sich im Rahmen seiner grundrechtlich geschützten Freiheiten nicht in der Lage sieht, den an ihn herangetragenen Erwartungshaltungen gerecht zu werden.

Das BAG hat das Abwägungsergebnis maßgeblich darauf gestützt, dass die Bf betriebliche Störungen oder wirtschaftliche Nachteile nicht hinreichend plausibel dargelegt habe. Darauf deutete weder Branchenüblichkeit noch die Lebenserfahrung hin, zumal die Verkäuferin auch weniger exponiert als in der Parfümerieabteilung des Kaufhauses eingesetzt werden könne. Dies ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.
Sachgerecht ist es auch, dass das BAG eine konkrete Gefahr des Eintritts der von der Bf befürchteten nachteiligen Folgen verlangt und nicht schon auf einen bloßen Verdacht hin die Glaubensfreiheit der Arbeitnehmerin zurücktreten lässt.

Beschluss vom 30. Juli 2003 - Az. 1 BvR 792/03 -Karlsruhe, den 21. August 2003

18 März 2003

BVerfG stellt NPD-Verbotsverfahren ein

Einstellung der NPD-Verbotsverfahren

Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts hat heute die
NPD-Verbotsverfahren eingestellt.

Zum Sachverhalt: Die 1964 gegründete NPD, die Antragsgegnerin (Ag),
erzielte bei einzelnen Landtagswahlen zwischen 1966 und 1968
Wahlergebnisse zwischen 5,8 v.H. und 9,8 v.H.. 1969 erreichte sie mit
einem Zweitstimmenanteil von 4,3 v.H. ihr bestes
Bundestagswahlergebnis. Seither errang sie bei keiner Landtags- oder
Bundestagswahl mehr ein Mandat. Bei den Bundestagswahlen 1998 und 2002
erzielte die Ag jeweils 0,3 v.H. und 0,4 v.H. der abgegebenen gültigen
Zweitstimmen und bei den letzten Europawahlen 1999 0,4 v.H. der
abgegebenen gültigen Stimmen. 1996 verfügte sie nach eigenen Angaben
noch über 3240 Mitglieder. Nach der Wahl von Udo Voigt zum
Parteivorsitzenden im März 1996 stieg die Zahl ihrer Mitglieder bis
2001 auf 6500.
Am 30. Januar und 30. März 2001 beantragten Bundesregierung, Bundestag
und Bundesrat (Antragsteller; ASt) beim BVerfG die Feststellung der
Verfassungswidrigkeit der Ag und die Auflösung ihrer
Parteiorganisation. Sie halten die Ag für verfassungswidrig. Die Ag
gehe nach ihren Zielen und nach dem Verhalten ihrer Anhänger darauf
aus, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen.
Sie sei in ihrem Gesamtbild nationalsozialistisch, antisemitisch,
rassistisch sowie antidemokratisch geprägt. Die Ag hält die Anträge für
unzulässig und unbegründet.
Laut Beschluss vom 1. Oktober 2001 hat der Senat entschieden, die
mündliche Verhandlung durchzuführen. Im Januar 2002 hat der Senat
Kenntnis davon erhalten, dass ein Funktionär der Ag, dessen Äußerungen
mehrfach zur Stützung der Verbotsanträge herangezogen worden sind,
V-Mann eines Landesamts für Verfassungsschutz ist. In der Folgezeit
haben die ASt erklärt, dass die Ag durch V-Leute des
Verfassungsschutzes beobachtet werde. Auch auf der Ebene der Vorstände
der Ag gebe es V-Leute.
Nachdem der Senat die sich aus der nachrichtendienstlichen Beobachtung
der Ag ergebenden Fragen am 8. Oktober 2002 mit den
Verfahrensbeteiligten erörtert hatte, hat die Ag sinngemäß die
Einstellung des Verfahrens beantragt. Die ASt hätten durch die V-Leute
die Möglichkeit, von ihrer internen Planung der Prozessführung Kenntnis
zu erlangen. Das Verbotsverfahren sei deshalb rechtsstaatlich nicht
mehr durchführbar. Die ASt haben erklärt, dass eine unzulässige
Ausforschung der Prozessstrategie der Ag nicht stattgefunden habe. Ein
Prozesshindernis liege nicht vor.
Wegen der weiteren Prozessgeschichte wird auf die Pressemitteilung
Nr. 15/2003 vom 26. Februar 2003 hingewiesen.

1. In den Gründen der Entscheidung des Senats heißt es:

Das Verfahren kann nicht fortgeführt werden, weil der
Einstellungsantrag der Ag nicht die für eine Ablehnung erforderliche
qualifizierte Zweidrittelmehrheit gefunden hat. Vier Richter sind der
Auffassung, dass ein Verfahrenshindernis nicht besteht. Drei Richter
sind der Auffassung, dass ein nicht behebbares Verfahrenshindernis
vorliegt.

Nach § 15 Abs. 4 BVerfGG bedarf in einem Parteiverbotsverfahren eine
dem Antragsgegner nachteilige Entscheidung in jedem Fall einer Mehrheit
von zwei Dritteln der Mitglieder des Senats. Mindestens sechs des aus
acht Richtern bestehenden Senats müssen eine nachteilige Entscheidung
gegenüber dem Antragsgegner tragen. Nachteilig ist grundsätzlich jede
Entscheidung, die die Rechtsposition des Antragsgegners verschlechtern
oder sonst negativ beeinflussen kann.

Die Ablehnung des Antrags auf Einstellung des Verfahrens ist eine für
die Ag nachteilige Entscheidung. Bereits der Wortlaut der Vorschrift
des § 15 Abs. 4 BVerfGG macht deutlich, dass eine qualifizierte
Mehrheit erforderlich ist, um einen Antrag auf Einstellung des
Verfahrens wegen eines Verfahrenshindernisses abzulehnen; er schreibt
bei einer nachteiligen Entscheidung "in jedem Fall" eine Mehrheit von
zwei Dritteln der Mitglieder des Senats vor. Zudem trägt das
Erfordernis der qualifizierten Mehrheit der hervorgehobenen
verfassungsrechtlichen Stellung der politischen Parteien und ihrer
erhöhten Schutz- und Bestandsgarantie Rechnung. Da Parteien durch die
Feststellung der Verfassungswidrigkeit und die Auflösung ihrer
Organisation von der freien Mitwirkung an der politischen
Willensbildung des Volkes ausgeschlossen werden, bedürfen gerichtliche
Entscheidungen zum Nachteil einer Partei in einem Verbotsverfahren
einer besonderen Legitimation. Dieser Regelungszweck erfasst jedenfalls
auch Entscheidungen über das Vorliegen eines nicht behebbaren
Verfahrenshindernisses. Würde das BVerfG die Einstellung des Verfahrens
ablehnen, weil ein Verfahrenshindernis nicht vorliegt, müsste das
Parteisverbotsverfahren fortgesetzt und eine mündliche Verhandlung
durchgeführt werden. Darin läge eine eigenständige Belastung für die
betroffene Partei. Eine Minderheit von drei Richtern ist der
Auffassung, infolge mangelnder Staatsfreiheit der Ag auf der
Führungsebene sowie mangelnder Staatsfreiheit des zur Antragsbegründung
ausgebreiteten Bildes der Partei bestehe ein nicht behebbares Hindernis
für die Fortführung des Verfahrens. In Anbetracht des Erfordernisses
der qualifizierten Mehrheit steht danach fest, dass die
Parteiverbotsanträge nicht zum Erfolg geführt werden können. Eine
Fortführung des Verfahrens wäre deshalb rechtsstaatlich nicht
vertretbar und der Ag nicht zuzumuten.

Der Einstellungsbeschluss ist eine Prozess- und keine Sachentscheidung.
Den Rechtsansichten der Minderheit und der Mehrheit der Richter kommt
deshalb keine Bindungswirkung zu.

2. Die Richter Hassemer und Broß sowie die Richterin Osterloh sind der
Auffassung, dass ein nicht behebbares Verfahrenshindernis vorliegt.

Im Parteiverbotsverfahren wurde das Gebot strikter Staatsfreiheit der
Ag rechtsstaatswidrig verfehlt. Dieser Mangel ist nicht behebbar.
Derzeit sind auch keine Gründe erkennbar, die die Fortsetzung des
Parteiverbotsverfahrens dennoch ausnahmsweise rechtfertigen könnten. Im
Einzelnen führen die drei Richter aus:

a) Bei der Durchführung gerichtlicher Verfahren gelten rechtsstaatliche
Mindestanforderungen: Kein staatliches Verfahren darf einseitig nur
nach Maßgabe des jeweils rechtlich bestimmten Verfahrenszwecks ohne
Rücksicht auf mögliche gegenläufige Verfassungsgebote und auf mögliche
übermäßige rechtsstaatliche Kosten einseitiger Zielverfolgung
durchgeführt werden. Die Durchsetzung jedes staatlichen
Verfahrensinteresses muss im Konflikt mit gegenläufigen
verfassungsrechtlichen Rechten, Grundsätzen und Geboten als
vorzugswürdig nach Maßgabe der Grundsätze der Verhältnismäßigkeit
gerechtfertigt sein. Dem BVerfG kommt dabei im Parteiverbotsverfahren
eine Garantenstellung für die Wahrung der rechtsstaatlichen
Anforderungen zu. Die Annahme eines Verfahrenshindernisses mit der
Folge sofortiger Verfahrenseinstellung kommt nur als ultima ratio
möglicher Rechtsfolgen von Verfassungsverstößen und unter folgenden
Voraussetzungen in Betracht: Es muss ein Verfassungsverstoß von
erheblichem Gewicht vorliegen. Dieser bewirkt einen nicht behebbaren
rechtsstaatlichen Schaden für die Durchführung des Verfahrens, so dass
dessen Fortsetzung auch bei einer Abwägung mit den staatlichen
Interessen an wirksamem Schutz gegen die von einer möglicherweise
verfassungswidrig tätigen Partei ausgehenden Gefahren rechtsstaatlich
nicht hinnehmbar ist.

Die Beobachtung einer politischen Partei durch V-Leute staatlicher
Behörden, die als Mitglieder des Bundesvorstands oder eines
Landesvorstands fungieren, unmittelbar vor und während der Durchführung
eines Parteiverbotsverfahrens ist in der Regel unvereinbar mit den
Anforderungen an ein rechtsstaatliches Verfahren. Staatliche Präsenz
auf der Führungsebene einer Partei macht Einflussnahmen auf deren
Willensbildung und Tätigkeit unvermeidbar. In einem
Parteiverbotsverfahren schwächen Mitglieder der Führungsebene, die mit
einander entgegengesetzten Loyalitätsansprüchen des staatlichen
Auftraggebers und der observierten Partei konfrontiert sind, die
Stellung der Partei als Antragsgegner vor dem BVerfG im Kern. Für
diese Wirkung reicht die bloße Präsenz "doppelfunktionaler", sowohl mit
dem Staat als auch mit der Partei rechtlich und faktisch verknüpfter
"Verbindungs-" Personen aus. Auf die tatsächliche Information der ASt
über die Prozessstrategie der Partei im Verbotsverfahren kommt es nicht
an.

Vor diesem Hintergrund braucht das verfassungsgerichtliche
Parteiverbotsverfahren ein Höchstmaß an Rechtssicherheit, Transparenz,
Berechenbarkeit und Verlässlichkeit des Verfahrens. Dies gilt auch für
das zu beurteilende Tatsachenmaterial. Damit das BVerfG seiner Aufgabe,
ein rechtsstaatliches Verfahren zu gewährleisten, nachkommen kann,
müssen die zur Antragstellung berechtigten Verfassungsorgane die ihnen
zugewiesene Verfahrensverantwortung erkennen und wahrnehmen. Sie müssen
durch sorgfältige Vorbereitung die notwendigen Voraussetzungen für die
Durchführung eines Verbotsverfahrens schaffen und ausschließen, dass
Personen mit ihren Äußerungen als Teil des Bildes einer
verfassungswidrigen Partei präsentiert werden, die
nachrichtendienstliche Kontakte mit staatlichen Behörden unterhalten
oder unterhalten haben, ohne dies kenntlich zu machen und so die daraus
folgenden Zurechnungsprobleme offenzulegen.

Ob ein Verstoß gegen diese Erfordernisse der Verfahrensgestaltung zu
einem nicht behebbaren rechtsstaatlichen Schaden führt, lässt sich
nicht generell abstrakt beantworten. Es kommt auf die konkrete
Verfahrenssituation und die Gefahrensituation, auf die eine mögliche
Einstellung des Verfahrens trifft, an. Bei einem nicht behebbaren
rechtsstaatlichen Mangel wird das Verfahren nur ín ganz
außergewöhnlichen Gefahrensituationen fortgesetzt werden können. Bei
der Gesamtabwägung ist von Bedeutung, dass die Einstellung des
Verbotsverfahrens keine abschließende Entscheidung über die
Zulässigkeit zukünftiger Verbotsanträge ist. Erneute Anträge bleiben
vielmehr ohne Weiteres möglich, sie müssen insbesondere nicht "auf neue
Tatsachen gestützt" sein.

b) Diesen verfassungsrechtlichen Anforderungen werden die Art und
Intensität der Beobachtung der Ag durch die Verfassungsschutzbehörden
nicht gerecht. Von Staatsfreiheit der Führungsebenen der Ag nach
Einleitung des Verbotsverfahrens kann keine Rede sein. Nach Überzeugung
aller Mitglieder des Senats bestanden unmittelbar vor und auch noch
nach Eingang des Verbotsantrags der Bundesregierung
nachrichtendienstliche Kontakte mit Mitgliedern der Ag im
Bundesvorstand und in Landesvorständen. Nach Angaben der ASt gibt es
auf der Ebene der Vorstände V-Leute, deren prozentualer Anteil an drei
überprüften Stichtagen jeweils unter fünfzehn Prozent gelegen habe. In
den Landesvorständen seien im Schnitt jeweils ein bis zwei V-Leute. Auf
der Ebene des Bundesvorstands führte jedenfalls der Bund seine
nachrichtendienstlichen Kontakte nach Antragstellung fort. Der Kontakt
mit einem V-Mann und Mitglied des Bundesvorstands wurde erst lange nach
Eingang aller drei Verbotsanträge beendet. Außerdem soll die NPD in dem
Zeitraum von 1996 bis 2002 ständig Beobachtungsobjekt der
Verfassungsschutzämter in Bayern, Berlin und Hessen gewesen sein.
Schließlich wurde ein Mitglied des Bundesvorstands der Ag selbst nach
Stellen der Verbotsanträge mit dem Ziel der Anwerbung angesprochen, um
die Ag auf Vorstandsebene zu beobachten.

Die Antragsbegründungen sind auch zweifelsfrei in nicht unerheblicher
Weise auf Äußerungen von Mitgliedern der Ag gestützt, die als V-Leute
für staatliche Behörden tätig sind oder tätig waren, ohne dass dies
offen zu einem Gegenstand der Erörterung im Verfahren gemacht worden
ist oder noch gemacht werden könnte.

Eine besondere Ausnahmesituation, aufgrund deren die massive staatliche
Präsenz auf den Vorstandsebenen der ASt auch nach Eingang der
Verbotseingänge hätte gerechtfertigt werden können, wird von den ASt
nicht geltend gemacht und ist auch nicht erkennbar. Es gibt auch keine
Rechtfertigung dafür, dass die Antragsbegründungen nicht unerheblich
auf Äußerungen führender Parteimitglieder gestützt sind, die zeitgleich
oder zu früheren Zeitpunkten als V-Leute auch im Dienst staatlicher
Stellen tätig waren. Anhaltspunkte für eine gefahrenbedingte
Eilbedürftigkeit, die einer sorgfältigen Vorbereitung der Anträge im
Wege gestanden hätten, fehlen.

3. Die Richter Sommer, Jentsch, Di Fabio und Mellinghoff sind der
Auffassung, dass kein Verfahrenshindernis besteht. Sie halten die
Fortführung des Verbotsverfahrens für geboten.

Verfahrenshindernisse, die einer Verhandlung mit dem Ziel einer
Sachentscheidung entgegenstehen, liegen nur in besonders gelagerten
Ausnahmefällen vor, in denen ein anerkennenswertes Interesse schon an
der Durchführung des gerichtlichen Verfahrens im Einzelfall nicht mehr
besteht und eine Fortsetzung des Verfahrens rechtsstaatlich nicht mehr
hinnehmbar ist. Gerichte dürfen sich der Justizgewähr grundsätzlich
nicht entziehen, soweit nicht geschriebenes Prozessrecht oder andere
zwingende Gründe eine Sachentscheidung unmöglich machen. Verweigert das
Gericht wegen der Annahme eines gesetzlich nicht bestimmten
Verfahrenshindernisses im Ergebnis die Entscheidung über die Sache, so
verschließt es den rechtsstaatlich gebotenen Weg zur Rechtsgewähr mit
der Konsequenz, dass nicht in einer befriedenden Weise festgestellt
werden kann, was Rechtens ist. Für die Annahme eines
Verfahrenshindernisses ist deshalb ein strenger Maßstab anzulegen. Das
Gericht muss alle seine Möglichkeiten ausschöpfen, um tatsächliche und
rechtliche Hindernisse für eine Entscheidung in der Sache auszuräumen.
Im Parteiverbotsverfahren gegen die Ag sind bislang keine Umstände
bekannt geworden, die die Fortführung des Verfahrens in seiner
Gesamtheit tatsächlich unmöglich oder rechtlich unverhältnismäßig
machen. Die nachrichtendienstliche Beobachtung der Ag begründet weder
im Hinblick auf den Grundsatz der Staatsfreiheit der Parteien noch
wegen Fragen der Zurechnung der vorgelegten Erkenntnismittel noch
aufgrund der Pflicht zur Gewährung eines fairen Verfahrens ein
Verfahrenshindernis. Dazu führen die vier Richter im Einzelnen aus:

Eine staatliche Fremdsteuerung der Ag des Ausmaßes, dass ihr
politisches Erscheinungsbild nicht mehr das Ergebnis eines offenen
gesellschaftlichen Willensbildungsprozesses ist, ist nicht ansatzweise
erkennbar. Bei einer inhaltlichen und programmatischen Fremdsteuerung
folgte daraus kein Verfahrenshindernis. Vielmehr verlöre die Ag ihre
Parteiqualität, so dass der Verbotsantrag in einer Entscheidung zur
Sache als unzulässig zurückzuweisen wäre.

Was die Zurechenbarkeit von Erkenntnismitteln angeht, hat das BVerfG im
Parteiverbotsverfahren alle prozessual vorgesehenen Mittel der
Sachaufklärung zu nutzen. Die gerichtliche Aufklärungspflicht gestattet
dem BVerfG nicht, allein aufgrund einer möglichen mittelbaren
staatlichen Einflussnahme durch V-Leute auf die Äußerungen oder
Verhaltensweisen im Rahmen der Parteitätigkeit das Verfahren ohne
weitere Prüfung abzubrechen. Sachentscheidungserhebliche Tatsachen sind
in einer öffentlichen mündlichen Verhandlung unter Ausschöpfung der
Mittel der Beweisaufnahme und unter umfassender Gewährung von
rechtlichem Gehör aufzuklären.

Ein Verfahrenshindernis folgt auch nicht aus dem Grundsatz des fairen
Verfahrens. Um einen Verstoß gegen diesen Grundsatz anzunehmen, müsste
bereits jetzt positiv feststehen, dass die Verhandlungskonzeption der
Ag in einer Weise ausgeforscht worden ist, die eine sachangemessene
Rechtsverteidigung unmöglich macht. Der bloße Anschein oder die
abstrakte Gefahr einer Ausforschung reichen hierfür nicht aus.
Anhaltspunkte dafür, dass die Ag in Folge der nachrichtendienstlichen
Beobachtung durch staatliche Stellen an einer sachgerechten
Verteidigung im Verbotsverfahren gehindert wäre, bestehen nicht. Es ist
weder vorgetragen noch erkennbar, dass die ASt Kenntnis von Umständen
erlangt haben, die das geplante Prozessverhalten der Ag im
Verbotsverfahren betreffen. Ebenso wenig ist ersichtlich, dass die
Wirksamkeit der Verteidigungsmittel der Ag beeinträchtigt worden ist.

Selbst wenn es zu einer Ausforschung des Verhaltens der maßgeblich am
Verfahren beteiligten Funktionäre und Vertreter der Ag gekommen wäre,
verstieße die Fortführung des Parteiverbotsverfahrens erst dann gegen
rechtsstaatliche Grundsätze, wenn das Gewicht der Beeinträchtigung den
konkreten Präventionszweck des Parteiverbotsverfahrens überwöge. Denn
mögliche Rechtsbeeinträchtigungen müssen, um ein Verfahrenshindernis
begründen zu können, in Abwägung zu den Zielen und der Bedeutung des
Verfahrens von solcher Art und solchem Gewicht sein, dass die
Fortführung des gerichtlichen Verfahrens unverhältnismäßig wäre. Dies
erfordert für das Parteiverbotsverfahren, nicht nur abstrakt die
Bedeutung des Art. 21 Abs. 2 GG zu bestimmen, sondern auch die konkrete
Gefahrenlage abzuschätzen, die von der politischen Partei für die
geschützten Rechtsgüter dieser Vorschrift ausgehen. Die danach gebotene
Abwägung setzt eine Sachaufklärung und Beweisaufnahme im Hinblick auf
alle abwägungsrelevanten Tatsachen voraus. Eine Prozessbeendigung ohne
sie widerspricht der besonderen Justizgewährpflicht des BVerfG im
Parteiverbotsverfahren.

Der Präventionsauftrag des BVerfG erfordert die Aufklärung des
konkreten Ausmaßes der Gefahr für die Rechtsgüter des Art. 21 Abs. 2
GG, wenn das Verfahren ohne Sachentscheidung eingestellt werden soll.
Klärungsbedürftig ist insoweit auch, ob in parteitypisch organisierter
Weise Angriffe auf die Würde des Menschen erfolgen. Geht von einer
politischen Partei eine konkret nachweisbare Gefahr für den Fortbestand
des freiheitlichen Verfassungsstaates aus, so darf das BVerfG etwaige
Verstöße gegen den allgemeinen Grundsatz des fairen Verfahrens bei der
Abwägung nicht als überwiegend ansehen. Für die notwendige umfassende
Aufklärung des Sachverhalts kann und muss das BVerfG aufgrund des
Untersuchungsgrundsatzes selbst sorgen. Das Gericht darf nicht von
vornherein unter Hinweis auf entgegenstehende Geheimschutzbelange oder
die besondere Verfahrensverantwortung von Beteiligten auf die
Ermittlung entscheidungserheblicher Tatsachen verzichten.

Bei der Abwägung, ob Verfahrensmängel im Verbotsverfahren den Grundsatz
des fairen Verfahrens verletzten, ist der Belang des präventiven
Verfassungsschutzes in angemessener Weise zu berücksichtigen. Die
verfassungsrechtliche Verpflichtung staatlicher Stellen,
verfassungswidrige Bestrebungen zu ermitteln und gegebenenfalls gegen
diese vorzugehen, wird grundsätzlich nicht durch die Anhängigkeit eines
Parteiverbotsverfahrens aufgehoben. Gerade der Schutz von
Individualrechtsgütern wie Würde, Leben und Gesundheit, der staatlichen
Stellen obliegt, kann es auch von Verfassungs wegen erfordern,
unabhängig vom Verbotsverfahren die nachrichtendienstliche Beobachtung
in geeigneter Weise fortzusetzen. Rechtsstaatliche Grundsätze gebieten
nicht, für die Dauer des Verfahrens Gefahren für geschützte
Rechtsgüter, zumal unbeteiligter Dritter, hinzunehmen.

Beschluss vom 18. März 2003 - Az. 2 BvB 1/01 u.a. -
Karlsruhe, den 18. März 2003

>> Diskussion

11 März 2003

BVerfG zur Strafbarkeit "illegaler Ausländer"

Zur Strafbarkeit des unerlaubten Aufenthalts in der Bundesrepublik Deutschland

Wird einem Ausländer die Straftat des unerlaubten Aufenthalts im
Bundesgebiet nach § 92 Abs. 1 Nr. 1 Ausländergesetz (AuslG)
vorgeworfen, müssen die Strafgerichte von Verfassungs wegen
selbstständig prüfen, ob die gesetzlichen Voraussetzungen für die
Erteilung einer ausländerrechtlichen Duldung im Tatzeitraum gegeben
waren. Dies entschied die 3. Kammer des Zweiten Senats mit Beschluss
vom 6. März 2003 auf die - erfolgreiche - Verfassungsbeschwerde (Vb)
eines syrischen Staatsangehörigen (Beschwerdeführer; Bf), der mit
gefälschtem Reisepass in die Bundesrepublik Deutschland eingereist war
und seine eigenen Identitätspapiere bewusst im Heimatland
zurückgelassen hatte. Die zugrundeliegenden Entscheidungen der
Strafgerichte wurden aufgehoben, und die Sache an das Ausgangsgericht
zurückverwiesen.

1. Es geht um folgenden Sachverhalt: Der 1998 eingereiste Bf blieb mit
seinem Antrag auf Anerkennung als Asylberechtigter ohne Erfolg. Obwohl
er vollziehbar ausreisepflichtig war, wurde seine Abschiebung seitens
der Ausländerbehörde nicht in die Wege geleitet. Die Beschaffung eines
Heimreisedokuments verzögerte sich mangels Vorliegens der notwendigen
Identitätsnachweise. Erst neun Monate später bewilligte die
Ausländerbehörde dem Bf eine Aussetzung der Abschiebung (Duldung).
Wegen dieses Sachverhalts wurde der Bf vom Amtsgericht wegen Verstoßes
gegen § 92 Abs. 1 Nr. 1 AuslG zu einer Freiheitsstrafe von vier
Monaten, die nicht zur Bewährung ausgesetzt wurde, verurteilt. Ein
Ausländer, der eine nach dem Ausländergesetz erforderliche
Aufenthaltsgenehmigung nicht oder nicht mehr besitzt, ist zur Ausreise
verpflichtet. Besitzt er keine Duldung und bleibt er gleichwohl im
Bundesgebiet, gilt die strafrechtliche Regelung des § 92 Abs. 1 Nr. 1
AuslG. Rechtsmittel des Bf gegen die Verurteilung blieben erfolglos.
Hiergegen setzte er sich mit seiner Vb zur Wehr. Er rügte die
Verletzung seiner Grundrechte aus Art. 2, Art. 3 sowie aus Art. 103
Abs. 2 GG.

2. Die Kammer hat die Vb zur Entscheidung angenommen. Die Vb ist
offensichtlich begründet. Die angegriffenen Entscheidungen verstoßen
gegen Art. 3 Abs. 1 GG in seiner Ausprägung als Willkürverbot.

Die Verurteilung des Bf wurde damit begründet, dass ihm die Erlangung
von Identitätsnachweisen zur Beschaffung der Einreisepapiere nach
Syrien möglich gewesen sei, im Übrigen habe er die faktische
Unmöglichkeit seiner Ausreise selbst herbeigeführt, weil er mit einem
gefälschten Pass eingereist sei. Damit liegt der Verurteilung die
Erwägung zugrunde, dass es zur Tatbestandsverwirklichung des § 92
Abs. 1 Nr. 1 AuslG nicht darauf ankomme, ob ein Anspruch auf Duldung
bestehe oder nicht. Diese Annahme ist von Verfassungs wegen nicht
hinnehmbar. Sie widerspricht der Rechtsprechung des
Bundesverwaltungsgerichts und überlässt es dem freien Ermessen der
Ausländerbehörden, ob und in welchem Umfang ein Ausländer sich strafbar
macht.

Nach dem Ausländergesetz ist ein vollziehbar ausreisepflichtiger
Ausländer bei Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen entweder
unverzüglich abzuschieben oder zu dulden. Dabei hat die
Ausländerbehörde zu prüfen, ob und gegebenenfalls wann seine
Abschiebung durchgeführt und zu welchem Zeitpunkt ein eventuelles
Abschiebungshindernis behoben werden kann. Stellen sich Verzögerungen
ein und bleibt der Zeitpunkt der Abschiebung ungewiss, ist - unabhängig
von einem Antrag des Ausländers - als "gesetzlich vorgeschriebene
förmliche Reaktion auf ein Vollstreckungshindernis" eine Duldung zu
erteilen. Die Systematik des Ausländergesetzes lässt grundsätzlich
keinen Raum für einen ungeregelten Aufenthalt, der den Zeitpunkt der
Duldungserteilung ins Belieben der Behörden stellt. Der Ausländer ist
auch zu dulden, wenn er die Entstehung des Hindernisses (z.B. durch
Mitführen gefälschter Papiere bei der Einreise) oder dessen nicht
rechtzeitige Beseitigung (etwa durch unterlassene Mitwirkung bei der
Beschaffung notwendiger Identitätspapiere) zu vertreten hat. Die
Duldung ist eine gesetzlich zwingende Reaktion auf ein vom Verschulden
des Ausländers unabhängiges Abschiebungshindernis. Deshalb dürfen die
Strafgerichte das Verwaltungshandeln ihrer Entscheidung nicht ungeprüft
zugrunde legen. Dies führt im Falle einer gesetzwidrigen Praxis der
Ausländerbehörden dazu, über die mögliche Strafbarkeit des Ausländers
und deren Umfang entgegen den Grundsätzen des im Strafrecht geregelten
Schuldprinzips letztlich die jeweilige Ausländerbehörde entscheiden zu
lassen.

Beschluss vom 6. März 2003 - Az. 2 BvR 397/02 -
Karlsruhe, den 11. März 2003