Freisprüche dreier Mitglieder des Politbüros aufgehoben
Die Staatsanwaltschaft Berlin wirft den drei Angeklagten vor, sie hätten während ihrer jeweiligen Mitgliedschaft im Politbüro des Zentralkomitees der SED der DDR einen Totschlag durch Unterlassen begangen. Ihnen werden – im einzelnen differenziert – die Tötungen von vier Flüchtlingen zu Last gelegt, die in den Jahren 1984 bis 1989 an der Berliner Mauer durch Grenzposten der DDR erschossen wurden, als sie versuchten, die Grenzsperranlagen zu überwinden. Das Landgericht Berlin hat die Angeklagten aus Rechtsgründen freigesprochen.
Der 5. (Leipziger) Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat nunmehr auf die Revisionen der Staatsanwaltschaft und einer Nebenklägerin diese Freisprüche aufgehoben und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landgericht Berlin zurückverwiesen. Dabei hat der 5. Strafsenat befunden, daß alle Mitglieder des Politbüros als höchsten Machtorgans der DDR verpflichtet waren, zum Schutz des Lebens von Flüchtlingen auf eine Änderung des praktizierten Grenzregimes hinzuwirken. Diese Pflicht ergab sich aus der Verfassung der DDR von 1968, dem Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte von 1966 und der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (Resolution der Generalversammlung der Vereinten Nationen von 1948). Zu der gebotenen Humanisierung des Grenzregimes wäre nicht etwa die Öffnung der Grenzen der DDR zum westlichen Teil Deutschlands oder der Abbau der mechanischen Sperrwerke an dieser Grenze erforderlich gewesen. Vielmehr hat die Praxis der DDR bei besonderen Anlässen, wie Staatsbesuchen und Parteitagen, als Erschießungen an der Grenze – bzw. Nachrichten hiervon – vermieden werden sollten, gezeigt, daß etwa eine Postenverdichtung an der Grenze es ermöglichte, Flüchtlinge handgreiflich zu stellen, statt sie aus größerer Entfernung zu erschießen. Zumindest in diesem Sinne hätten die Angeklagten sich im Politbüro äußern und entsprechende Anträge stellen müssen. Die Angeklagten können sich nicht erfolgreich darauf berufen, daß jeder einzelne von ihnen möglicherweise im Politbüro mit der ihm gebotenen Initiative an einer entgegenstehenden Mehrheit gescheitert wäre. Dies knüpft an die bisherige Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs an und steht auch im Einklang mit der ständigen Rechtsprechung des Obersten Gerichts der DDR zu Fällen, in denen mehrere parallel Verantwortliche die Rettung von Menschenleben oder den Schutz menschlicher Gesundheit unterlassen hatten.
Im landgerichtlichen Urteil wird darauf hingewiesen, daß der Angeklagte Professor Häber zahlreiche Kontakte in die Bundesrepublik Deutschland hatte und "kleine Schritte" unternahm, um "in Fragen der Grenze und der Freizügigkeit eine Änderung zum Besseren herbeizuführen". Es erscheint nicht völlig ausgeschlossen, daß Professor Häber damit gar derjenigen Handlungspflicht nachgekommen ist, die ihm als Mitglied des Politbüros oblag. Bei Professor Häber kommt allerdings auch eine Strafbarkeit wegen Totschlags aufgrund seiner Mitwirkung an einem Beschluß des Politbüros in Betracht, durch den die Praxis des Grenzregimes bestätigt wurde. Wegen Mitwirkung an diesem Beschluß sind die Mitglieder des Politbüros Krenz, Kleiber und Schabowski rechtskräftig verurteilt worden (vgl. Urteil des Bundesgerichtshofs vom 8. November 1999, BGHSt 45, 270). Im Falle einer entsprechenden Verurteilung Professor Häbers wären Aktivitäten der genannten Art für die Strafzumessung ganz erheblicher Bedeutung.
Urteil vom 6. November 2002 – 5 StR 281/01
Karlsruhe, den 6. November 2002
Pressestelle des Bundesgerichtshofs