11 März 2003

BVerfG zur Strafbarkeit "illegaler Ausländer"

Zur Strafbarkeit des unerlaubten Aufenthalts in der Bundesrepublik Deutschland

Wird einem Ausländer die Straftat des unerlaubten Aufenthalts im
Bundesgebiet nach § 92 Abs. 1 Nr. 1 Ausländergesetz (AuslG)
vorgeworfen, müssen die Strafgerichte von Verfassungs wegen
selbstständig prüfen, ob die gesetzlichen Voraussetzungen für die
Erteilung einer ausländerrechtlichen Duldung im Tatzeitraum gegeben
waren. Dies entschied die 3. Kammer des Zweiten Senats mit Beschluss
vom 6. März 2003 auf die - erfolgreiche - Verfassungsbeschwerde (Vb)
eines syrischen Staatsangehörigen (Beschwerdeführer; Bf), der mit
gefälschtem Reisepass in die Bundesrepublik Deutschland eingereist war
und seine eigenen Identitätspapiere bewusst im Heimatland
zurückgelassen hatte. Die zugrundeliegenden Entscheidungen der
Strafgerichte wurden aufgehoben, und die Sache an das Ausgangsgericht
zurückverwiesen.

1. Es geht um folgenden Sachverhalt: Der 1998 eingereiste Bf blieb mit
seinem Antrag auf Anerkennung als Asylberechtigter ohne Erfolg. Obwohl
er vollziehbar ausreisepflichtig war, wurde seine Abschiebung seitens
der Ausländerbehörde nicht in die Wege geleitet. Die Beschaffung eines
Heimreisedokuments verzögerte sich mangels Vorliegens der notwendigen
Identitätsnachweise. Erst neun Monate später bewilligte die
Ausländerbehörde dem Bf eine Aussetzung der Abschiebung (Duldung).
Wegen dieses Sachverhalts wurde der Bf vom Amtsgericht wegen Verstoßes
gegen § 92 Abs. 1 Nr. 1 AuslG zu einer Freiheitsstrafe von vier
Monaten, die nicht zur Bewährung ausgesetzt wurde, verurteilt. Ein
Ausländer, der eine nach dem Ausländergesetz erforderliche
Aufenthaltsgenehmigung nicht oder nicht mehr besitzt, ist zur Ausreise
verpflichtet. Besitzt er keine Duldung und bleibt er gleichwohl im
Bundesgebiet, gilt die strafrechtliche Regelung des § 92 Abs. 1 Nr. 1
AuslG. Rechtsmittel des Bf gegen die Verurteilung blieben erfolglos.
Hiergegen setzte er sich mit seiner Vb zur Wehr. Er rügte die
Verletzung seiner Grundrechte aus Art. 2, Art. 3 sowie aus Art. 103
Abs. 2 GG.

2. Die Kammer hat die Vb zur Entscheidung angenommen. Die Vb ist
offensichtlich begründet. Die angegriffenen Entscheidungen verstoßen
gegen Art. 3 Abs. 1 GG in seiner Ausprägung als Willkürverbot.

Die Verurteilung des Bf wurde damit begründet, dass ihm die Erlangung
von Identitätsnachweisen zur Beschaffung der Einreisepapiere nach
Syrien möglich gewesen sei, im Übrigen habe er die faktische
Unmöglichkeit seiner Ausreise selbst herbeigeführt, weil er mit einem
gefälschten Pass eingereist sei. Damit liegt der Verurteilung die
Erwägung zugrunde, dass es zur Tatbestandsverwirklichung des § 92
Abs. 1 Nr. 1 AuslG nicht darauf ankomme, ob ein Anspruch auf Duldung
bestehe oder nicht. Diese Annahme ist von Verfassungs wegen nicht
hinnehmbar. Sie widerspricht der Rechtsprechung des
Bundesverwaltungsgerichts und überlässt es dem freien Ermessen der
Ausländerbehörden, ob und in welchem Umfang ein Ausländer sich strafbar
macht.

Nach dem Ausländergesetz ist ein vollziehbar ausreisepflichtiger
Ausländer bei Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen entweder
unverzüglich abzuschieben oder zu dulden. Dabei hat die
Ausländerbehörde zu prüfen, ob und gegebenenfalls wann seine
Abschiebung durchgeführt und zu welchem Zeitpunkt ein eventuelles
Abschiebungshindernis behoben werden kann. Stellen sich Verzögerungen
ein und bleibt der Zeitpunkt der Abschiebung ungewiss, ist - unabhängig
von einem Antrag des Ausländers - als "gesetzlich vorgeschriebene
förmliche Reaktion auf ein Vollstreckungshindernis" eine Duldung zu
erteilen. Die Systematik des Ausländergesetzes lässt grundsätzlich
keinen Raum für einen ungeregelten Aufenthalt, der den Zeitpunkt der
Duldungserteilung ins Belieben der Behörden stellt. Der Ausländer ist
auch zu dulden, wenn er die Entstehung des Hindernisses (z.B. durch
Mitführen gefälschter Papiere bei der Einreise) oder dessen nicht
rechtzeitige Beseitigung (etwa durch unterlassene Mitwirkung bei der
Beschaffung notwendiger Identitätspapiere) zu vertreten hat. Die
Duldung ist eine gesetzlich zwingende Reaktion auf ein vom Verschulden
des Ausländers unabhängiges Abschiebungshindernis. Deshalb dürfen die
Strafgerichte das Verwaltungshandeln ihrer Entscheidung nicht ungeprüft
zugrunde legen. Dies führt im Falle einer gesetzwidrigen Praxis der
Ausländerbehörden dazu, über die mögliche Strafbarkeit des Ausländers
und deren Umfang entgegen den Grundsätzen des im Strafrecht geregelten
Schuldprinzips letztlich die jeweilige Ausländerbehörde entscheiden zu
lassen.

Beschluss vom 6. März 2003 - Az. 2 BvR 397/02 -
Karlsruhe, den 11. März 2003