05 Dezember 2005

BVerfG: nach 8 Jahren U-Haft

Anordnung der Haftentlassung nach 8-jähriger Untersuchungshaftwegen Verletzung des Beschleunigungsgebots

Die Verfassungsbeschwerde eines Angeklagten, der sich seit über acht Jahren wegen des Verdachts des Herbeiführens einer Sprengstoffexplosionmit sechsfachem Mord und zweifachem Mordversuch in Untersuchungshaftbefindet, war erneut erfolgreich.

Die 3. Kammer des Zweiten Senats desBundesverfassungsgerichts stellte fest, dass die angegriffenenEntscheidungen des Oberlandesgerichts und des Landgerichts denBeschwerdeführer wegen Verletzung des in Haftsachen geltenden Beschleunigungsgebots in seinem Freiheitsgrundrecht verletzen. Siewurden zusammen mit dem zu Grunde liegenden Haftbefehl aufgehoben. DasOberlandesgericht wurde angewiesen, den Beschwerdeführer unverzüglichaus der Untersuchungshaft zu entlassen.

Sachverhalt:

Der Beschwerdeführer befindet sich seit dem 2. August 1997 inUntersuchungshaft. Ihm liegt zur Last, im Juli 1997 vorsätzlich eineGasexplosion herbeigeführt zu haben, die das dem Beschwerdeführergehörende Mietwohnhaus vollständig zerstörte, sechs Hausbewohner töteteund zwei weitere schwer verletzte. Nach einer Verfahrensdauer von übervier Jahren verurteilte ihn das Landgericht am 16. August 2001 wegenHerbeiführens einer Sprengstoffexplosion mit Todesfolge tateinheitlichmit sechsfachem Mord und zweifachem Mordversuch zu lebenslangerFreiheitsstrafe.Auf die Revision des Beschwerdeführers hob der Bundesgerichtshof am 24.Juli 2003 die Entscheidung des Landgerichts wegen einesVerfahrensfehlers auf. Die Angaben der Zeugin H. vor demErmittlungsrichter hätten nicht im Urteil verwertet werden dürfen, weilder Beschwerdeführer und sein damaliger Verteidiger entgegen denstrafprozessualen Bestimmungen nicht von dem Vernehmungsterminbenachrichtigt worden seien. Die Sache wurde zur erneuten Verhandlungund Entscheidung an das Landgericht zurückverwiesen. Die neueVerhandlung gegen den Beschwerdeführer hat am 6. Februar 2004 begonnenund dauert an.Der Antrag des Beschwerdeführers, den Haftbefehl außer Vollzug zusetzen, blieb vor dem Landgericht und Oberlandesgericht ohne Erfolg. Aufseine Verfassungsbeschwerde hin hob das Bundesverfassungsgerichts dieEntscheidung des Oberlandesgerichts auf und verwies die Sache zuerneuter Entscheidung an das Oberlandesgericht zurück (Beschluss vom 23.September 2005 – 2 BvR 1315/05 -; Pressemitteilung Nr. 94/2005 vom 30.September 2005). Am 8. November 2005 verwarf das Oberlandesgericht dieHaftbeschwerde erneut. Die nochmalige Überprüfung der Verfahrensaktenhabe keine der Justiz anzulastenden vermeidbaren Verfahrensverzögerungenergeben. Die gegen diese Entscheidung gerichtete Verfassungsbeschwerdehatte Erfolg.

Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zugrunde:

Das Oberlandesgericht hat unter Missachtung der Bindungswirkung dervorausgegangenen Kammerentscheidung vom 23. September 2005 erneut nichtberücksichtigt, dass durch die Aufhebung des erstinstanzlichen Urteilsund die Zurückverweisung der Sache eine dem Staat zuzurechnendeVerfahrensverzögerung schon deshalb vorliegt, weil das ergangene Urteilverfahrensfehlerhaft war.Dem kann, anders als das Oberlandesgericht meint, nicht mit Erfolgentgegengehalten werden, dass die Verfahrensverlängerung aufgrund derAufhebung des ersten Urteils im Revisionsverfahren Ausprägung einerrechtsstaatlichen Ausgestaltung des Rechtsmittelsystems sei und deshalbeinen Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot in Haftsachen nichtbegründen könne. Zwar ist es verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden,die infolge der Durchführung eines Revisionsverfahrens verstrichene Zeitnicht der ermittelten Überlänge eines Verfahrens hinzuzurechnen. Hiervonist aber dann eine Ausnahme zu machen, wenn das Revisionsverfahren derKorrektur eines offensichtlich der Justiz anzulastendenVerfahrensfehlers gedient hat. Entgegen der Auffassung desOberlandesgerichts kommt es nicht darauf an, ob es sich um einen„eklatanten“ Verfahrensfehler handelt. Maßgebend ist allein, in wessenSphäre der Verfahrensfehler wurzelt, in der des Beschwerdeführers oderin der der Justiz. Da vorliegend nur die Justiz von der bevorstehendenermittlungsrichterlichen Vernehmung der Zeugin H. Kenntnis hatte, konnteauch nur die Justiz der Benachrichtigungspflicht genügen. Der aus demUnterlassen dieser Verpflichtung und der aus der späteren Verwertung derAussage des Ermittlungsrichters resultierende Verfahrensfehler ist daherallein der Justiz anzulasten.Angesichts der dadurch bedingten Verfahrensverlängerung von nahezu 25Monaten (von der Einlegung der Revision gegen das erstinstanzlicheUrteil vom 16. August 2001 bis zur Rückkehr der Akte zurStaatsanwaltschaft nach Abschluss des Revisionsverfahrens am 4.September 2003 gerechnet) kann auch von einer lediglich kleinenVerzögerung, die entsprechend dem Gewicht der zu ahndenden Straftateneine Fortdauer der Untersuchungshaft noch rechtfertigen könnte, keineRede mehr sein. Damit ist allein schon aus diesem Grunde eine Verletzungdes Beschleunigungsgebots in Haftsachen gegeben, die zwingend zurAufhebung des Haftbefehls wegen Unverhältnismäßigkeit führen muss.Dessen ungeachtet weist das Verfahren eine Vielzahl weiterergravierender Verletzungen des Beschleunigungsgebots in Haftsachen auf,die jede für sich, aber erst recht in ihrer Gesamtheit zur Aufhebung derUntersuchungshaft zwingen.

Wegen der Einzelheiten wird auf den Entscheidungsinhalt verwiesen.