13 Dezember 2005

BVerfG: Sitzblockade und Freiheitsentzug

Erfolgreiche Verfassungsbeschwerde gegenfreiheitsentziehende Maßnahmen nach Castor-Sitzblockade

Die Beschwerdeführerin nahm im November 2001 im Zusammenhang mit einemCastor-Transport mit rund 200 Personen an einer Straßensitzblockadeteil. Als sie einem Platzverweis nicht nachkam, nahm die Polizei sie von10.20 Uhr bis 8.23 Uhr des darauf folgenden Tages in Gewahrsam, ohnedass sich während dieser Zeit ein Richter mit der Sache befasst hatte.Ihre hiergegen gerichtete Verfassungsbeschwerde hatte Erfolg. Die 2.Kammer des Zweiten Senats stellte fest, dass die angegriffenenBeschlüsse des Amtsgerichts und des Landgerichts, die die nachträglichenAnträge der Beschwerdeführerin auf Feststellung der Rechtswidrigkeit derFreiheitsentziehung sowie der Art und Weise ihrer Durchführungzurückgewiesen hatten, die Beschwerdeführerin in ihremFreiheitsgrundrecht sowie ihrem Recht auf effektiven Rechtsschutzverletzten. Die Gerichte hätten den entscheidungserheblichen Sachverhaltnicht hinreichend aufgeklärt. Die Sache wurde zur erneuten Entscheidungan das Landgericht zurückverwiesen.Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zu Grunde:1. Eine Freiheitsentziehung erfordert grundsätzlich eine vorherigerichterliche Anordnung. Eine nachträgliche richterliche Entscheidunggenügt nur in Ausnahmefällen. In einem solchen Fall ist die richterlicheEntscheidung unverzüglich nachzuholen. Das Gebot der Unverzüglichkeitverpflichtet zum einen die Polizei, eine richterliche Entscheidungunverzüglich herbeizuführen. Zum anderen muss auch die weitereSachbehandlung durch den Richter dem Gebot der Unverzüglichkeitentsprechen. Darüber hinaus ist es unverzichtbare Voraussetzungrechtsstaatlichen Verfahrens, dass Entscheidungen, die den Entzug derpersönlichen Freiheit betreffen, auf zureichender richterlicherSachaufklärung beruhen.Diesen Anforderungen werden die angegriffenen Beschlüsse nicht gerecht.Zum einen haben die Gerichte den zeitlichen Ablauf des polizeilichenVorgehens im Rahmen der Gewahrsamsnahme nicht analysiert. Hierzu hätteVeranlassung bestanden, weil Zeiträume von mehreren Stunden im Ablaufder Gewahrsamnahme ungeklärt sind. Die Beschwerdeführerin wurde um 10.20Uhr in Gewahrsam genommen, um 13.19 Uhr traf das Transportfahrzeug inder Gefangenensammelstelle ein. Ein – erst um 21:01 Uhr erstellter –Datenerfassungsbogen nennt als Aufnahmezeit hinsichtlich derBeschwerdeführerin 16:25 Uhr. Der Antrag der Bezirksregierung aufrichterliche Entscheidung über die Zulässigkeit derfreiheitsbeschränkenden Maßnahme datiert zwar noch vom selben Tag. Auseiner Mitteilung des Amtsgerichts ergibt sich aber, dass dieser erst amnächsten Tag bei Gericht eingegangen ist, ohne dass die genaue Uhrzeitermittelt werden konnte. Die Ausführungen der Fachgerichte zu diesemzeitlichen Ablauf innerhalb der Gefangenensammelstelle beschränken sichauf allgemeine blankettartige Begründungen, die nicht auf den konkretenFall eingehen. Um der hohen Bedeutung des Richtervorbehalts alsSicherung gegen unberechtigte Freiheitsentziehungen gerecht zu werden,hätte das Amtsgericht die konkreten Umstände der eingetretenenVerzögerungen, die das unverzügliche Anhängigmachen des Antrags aufZulässigkeit und Fortdauer der Gewahrsamnahme verhindert haben,aufklären müssen.Ferner gibt die Art und Weise der Durchführung des richterlichenBereitschaftsdienstes Anlass zu verfassungsrechtlichen Beanstandungen.Der richterliche Bereitschaftsdienst konnte sich nicht auf die Tageszeitbeschränken, sondern musste auch eine Regelung für die Nachtzeitbeinhalten, da aufgrund der zu erwartenden Massendemonstrationen miteiner Vielzahl von Ingewahrsamnahmen gerechnet werden musste, die nichtsämtlich zur Tageszeit sachgerecht bewältigt werden konnten.2. Die angegriffenen Entscheidungen verletzen die Beschwerdeführerinferner in ihrem Recht auf effektiven Rechtsschutz. DieBeschwerdeführerin hat gerügt, dass die Art und Weise des Vollzuges desGewahrsams einer Ersatzbestrafung gleich gekommen sei. Diesem Vorbringenist immanent, dass bessere Bedingungen des Vollzugs durch einesachgerechte Planung, eine bessere Organisation und Koordinierung wieauch durch eine anderweitige Unterbringung möglich gewesen seien. Dendamit von der Beschwerdeführerin in tatsächlicher Hinsicht aufgeworfenenFragen sind die Gerichte nicht nachgegangen. Ihnen hätte es oblegen, dieGründe für die Auswahl des Standorts der Gefangenensammelstelle, ihreKapazitätsgestaltung und die Frage einer zureichenden Ausstattung zuermitteln und unter Berücksichtigung der behördlicherseits geltendgemachten Belange sowie behördlicher Prognose- und Ermessensspielräumezu würdigen.